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► Inhaltsverzeichnis Kapitel (ausklappbar)
  1. Psychiatrische Grundlagen
    1. Einleitung
    2. Psychiatrische Untersuchung
      1. EXPLORATION
      2. Verhaltens- und Umfeldbeobachtung
      3. FREMDANAMNESE
      4. PSYCHOMETRIE
      5. KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG
      6. VOM SYMPTOM ZUR DIAGNOSE
    3. Behandlung der Schwerpunkt-Diagnosen in der sozialpsychiatrischen Versorgung
      1. Organische psychische Störungen
    4. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen  
    5. Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störung
    6. Affektive Störungen
    7. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen  
    8. Psychiatrische Notfälle
      1. Erregungszustand
      2. Bewusstseinsstörung / akute Verwirrtheit
      3. Panikattacke
      4. Akute Suizidalität
      5. Prädelir, Delir
      6. Intoxikation
      7. Katatonie / Stupor
      8. Malignes neuroleptisches Syndrom
  2. Rechtsgrundlagen
    1. Gesundheitsdienstgesetze der Länder
    2. Die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze der Länder
      1. Fachaufsicht der mit hoheitlichen Aufgaben beliehenen Kliniken (Berlin, Schleswig-Holstein)
    3. Das Betreuungsgesetz
    4. Voraussetzungen der rechtlichen Betreuung
      1. Aufgabenkreise
      2. Betreuungsverfahren
      3. Vorsorgevollmacht
    5. Unterbringungen bei Eigen- und Fremdgefährdung
    6. Juristische Begrifflichkeiten bei Eigen- und Fremdgefährdung
    7. Amtsrichterliches Unterbringungsverfahren 
    8. Unterbringung nach dem Betreuungsrecht
    9. Unterbringung nach dem PsychK(H)G
    10. Beispiel: Unterbringung nach dem PsychK(H)G und Betreuungsrecht
  3. Versorgungslandschaft
    1. Selbsthilfe und soziale Unterstützung
    2. Überblick zum Versorgungssystem für psychisch erkrankte Menschen
    3. Medizinische Behandlung und Rehabilitation
    4. Leistungen zur sozialen Teilhabe und zur Pflege
    5. Kommunales Qualitätsmanagement in der Gemeindepsychiatrie
      1. Psychiatrische Epidemiologie und regionale Psychiatrie-Berichterstattung
      2. Planung und Qualitätsentwicklung der Versorgung
      3. Beschwerdemanagement / Qualitätsmanagement

Psychiatrische Grundlagen

Einleitung

Das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie befasst sich mit den psychischen Erkrankungen in Bezug auf Prävention, Diagnostik und Behandlung. Formale Grundlage der Diagnosestellung bildet das Kapitel V (F) der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (international classification of diseases) in der 10. Revision (ICD-10; dimdi.de). ICD 10 ist ein multiaxiales System. Von früheren Versionen der ICD unterscheidet sie sich dadurch, dass das Kapitel F Diagnosekriterien enthält, die weltweit eine einheitliche psychiatrische Diagnostik ermöglichen sollen. Multiaxial bedeutet, dass mehrere Diagnosen nebeneinandergestellt werden können und sollen, sofern das in den Diagnosekriterien für bestimmte Diagnosen nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Das betrifft z. B. das Nebeneinanderbestehen von sogenannten Achse 1 - Störungen (wie z.B. Depression, Angsterkrankungen, schizophrenen Störungen) und sog. Achse 2 - Störungen (wie Persönlichkeitsstörungen). Aber es betrifft auch das Vorliegen mehrerer Achse 1- (z.B. soziale Phobie, mittlere depressive Episode, Alkoholabhängigkeit, Essstörung) oder Achse 2 - Störungen (z.B. Histrionische Persönlichkeitsstörung und Borderline-Persönlichkeitsstörung). ICD 10 unterstützt damit sehr stark das Erkennen und Dokumentieren von Komorbiditäten.  

Die 11. Revision ist aktuell in Vorbereitung und soll am 01.01.2022 zur Verfügung stehen (Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2020). Basierend auf dem bio-psycho-sozialen Modell wird die rein symptomorientierte Beschreibung ohne Lebensweltbezug der ICD um eine weitere Klassifikation, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF-mentale Funktionen; rehadat-icf.de) ergänzt.

Abbildung 4: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF
Abbildung 4: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF

Insbesondere durch die Novellierung des SGB IX (Bundesteilhabegesetz ab 01.01.2020) ist die Beschreibung der Teilhabestörung mit Hilfe der ICF obligat. Die ICF entspricht in ihrer Beschreibung der Wechselwirkungen der Umfeldfaktoren mit personalen Faktoren und Gesundheitsstörungen der sozialpsychiatrischen Herangehensweise. Zur vertiefenden Einordnung einer Diagnose kann das in den USA und zum Teil in der wissenschaftlichen Forschung gebräuchliche DSM-System dienen, auf dessen Erläuterung aufgrund der mangelnden praktischen Relevanz im sozialpsychiatrischen Kontext des ÖGD verzichtet wird.

Im Folgenden wird, versehen mit praxisnahen Tipps, ein leitliniengerechter, strukturierter Untersuchungsablauf zur ersten Diagnose-Einordnung beschrieben, dann folgt die weiterführende Zusatzdiagnostik. Im gesamten Vorgehen gilt es, die besondere Patientengruppe im ÖGD stets im Blick zu haben. Daher befassen wir uns am Schluss nach einem allgemeinen kurzen Überblick der Behandlungsmöglichkeiten mit häufig auftretenden Symptomatiken des sozialpsychiatrischen Alltags und umfasst die Diagnosegruppen der schizophrenen Störungen, der Abhängigkeitserkrankungen, der relevanten Untergruppen der Persönlichkeitsstörungen sowie kursorisch den affektiven Störungen.

Psychiatrische Untersuchung

Die psychiatrische Untersuchung gliedert sich in mehrere, durchaus zeitlich parallel durchgeführte Schritte:

  • der strukturierten Befragung mit Erheben des psychopathologischen Befunds, der sogenannten Exploration, 

  • sowie der Verhaltensbeobachtung, der biographischen Anamnese und

  • der Fremdanamnese.

Der psychiatrische Untersucher muss sich ganz besonders - mangels objektivierbarer, reproduzierbarer (apparativer) Diagnostik - der Gefahr der subjektiven Einordnung des Gesagten bewusst sein, hilfreich ist ein Vorgehen mittels halbstrukturierter Interviews.

Der Untersucher ist im psychiatrischen Bereich auf Sprache und deren Verstehen in besonderem Maße angewiesen. Bei Sprachbarrieren zwischen Patient und Untersucher ist, auch bei für den somatischen Bereich möglicherweise ausreichenden Sprachkenntnissen, ein unabhängiger psycho-sozial vorgebildeter Sprachmittler (z.B. Dolmetscher) hinzuzuziehen. Eine nahestehende Person, z.B. Familienangehörige, oder eine andere hinzugezogene Person, z.B. eine Reinigungskraft, sind für diese Aufgabe als kritisch zu betrachten. Jede kulturell getönte Interpretation, Weglassung oder wohlgemeinte Erläuterung sollte aufmerksam registriert, aber mit Vorsicht interpretiert werden. Die Kosten sollten im ÖGD durch den Auftraggeber bzw. den örtlichen oder überörtlichen Sozialleistungsträger getragen werden.

EXPLORATION

Die Situationen, in denen in der sozialpsychiatrischen Arbeit untersucht wird, unterscheiden sich oft wesentlich von Untersuchungssituationen in Praxis oder Klinik. Bei aktiver Kontaktaufnahme an der Haustüre oder in anderen nicht strukturierten Situationen ist zunächst der Aufbau einer Gesprächsbasis, der Abbau von Ängsten und Abwehr und die Schaffung einer Vertrauensbasis erforderlich. Die Gesprächsführung ist dann der Situation und den Bedürfnissen der/des Betroffenen anzupassen und oft wenig strukturiert. Auch wenn - insbesondere in Akutsituationen - aus wenigen Informationen eine Verdachtsdiagnose abgeleitet werden muss, sollten die im Folgenden beschriebenen Items einer vollständigen Exploration möglichst erfasst werden (siehe “Beispiel einer sozialpsychiatrischen Exploration” unter “Aspekte aus der Praxis”).

Die Exploration besteht aus der Erhebung des psychischen bzw. psychopathologischen Befundes, der Familien-, Sozial- und Berufsanamnese, der weiteren und speziellen Anamnese, z.B. der Sexualanamnese. Dazu gehört auch das Erfragen psychiatrischer Erkrankungen im familiären Umfeld, Nachfragen zum familiären Klima und zu den frühen Bindungsverhältnissen. Unbedingt ist das Thema Suizide in der Familie oder näheren sozialen Umgebung anzusprechen. Die Erhebung der Sozial- und Berufsanamnese gibt ein Bild der aktuellen Lebenssituation und ggf. wichtige Hinweise für Resilienzfaktoren und Hilfesysteme. Ebenfalls ist eine Überprüfung der sogenannten Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben zur vertieften Einschätzung hilfreich.

Eine ausführlichere biographische Anamnese gibt einen Überblick über Lebensweg, Interaktionsmuster, Persönlichkeitsstil und Hinweise auf Abwehrmechanismen. Somit ist sie der Ausgangspunkt für eine Persönlichkeitsdiagnostik und ein psychodynamisches Verständnis. Sie soll, wann immer möglich, durch eine Fremdanamnese ergänzt werden, da z.B. sowohl bei Psychosen wie auch bei Persönlichkeitsstörungen die eigene Wahrnehmung des Betroffenen von der seiner Umwelt abweichen kann.

Der psychopathologische Befund beschreibt als aktueller oder Querschnitts-Befund die zum Untersuchungszeitpunkt beim Untersuchten vorhandenen, als Längsschnitt-Befund die seit Erkrankungsbeginn aufgetretenen Symptome. Als Orientierung hat sich die folgende Gliederung des psychischen Befundes nach dem AMDP-System bewährt:

  • Bewusstseinsstörung (Einschätzung z.B. der Wachheit, der Klarheit, der Ansprechbarkeit)

  • Orientierungsstörungen (Bescheidwissen über Zeit, Ort, Situation und eigene Person)

  • Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen (Auffassung z.B. durch Erklären von Sprichwörtern überprüfen, Konzentrationsstörungen mittels z.B. Subtrahieren von Merk- oder Gedächtnisstörungen, abgrenzen durch Merken einfacher Begriffe und Wiedergeben nach 10 min oder Überprüfen von Begebenheiten, die mehr als 60 min. her sind, siehe MMST)

  • Formale Denkstörungen (Wahrnehmung für die Veränderung in der Geschwindigkeit, der Verständlichkeit oder des roten Fadens im Erzählen)

  • Befürchtungen und Zwänge (Gezieltes Erfragen von Ängsten und darauf bezogene Empfindungen oder Verhaltensweisen, wie z.B. Vermeidung)

  • Wahn (mit subjektiver Gewissheit wird die Wirklichkeit fehlgedeutet, systematisch oder eingeengt auf einzelne Themen)

  • Sinnestäuschungen (Es werden Illusionen-Verkennung bei Vorhandensein einer Reizquelle - und Halluzinationen-Fehlwahrnehmung ohne Reizquelle - unterschieden)

  • Ich-Störungen (Die Grenze des Ich zum Außen (Derealisation), das persönliche Einheitserleben (Depersonalisation) ist gestört und wird als fremd erlebt und/oder das Fühlen, Denken oder Handeln, z.B. Gedankenentzug, wird als von außen gemacht erlebt)

  • Störungen der Affektivität (Beurteilung der Stimmung und Emotionalität) 

  • Antriebs- und psychomotorische Störungen (Erfassen des Aktivitätsniveaus, auch anhand von Gestik, Mimik und Sprache)

  • Circadiane Besonderheiten (Fragen nach regelhaften Schwankungen der Stimmung und des Verhaltens innerhalb von 24-Stunden-Perioden)

  • Suizidalität (Direktes Fragen nach verstärktem Ruhewünschen, Überdrußgedanken und/oder Handlungsabsichten)

  • Sonstige Besonderheiten ( Aggressivität, Pflegebedürftigkeit etc.)

Verhaltens- und Umfeldbeobachtung

Gerade bei wortkargen oder in ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit eingeschränkten Patienten können Beobachtungen des Verhaltens wertvolle zusätzliche Hinweise auf die Diagnose ergeben. Ebenso kann die Verhaltensbeobachtung der Validierung der gemachten verbalen Aussagen hinsichtlich Schwere oder Kongruenz dienen oder weitere, nicht verbalisierte Symptome zeigen. Allerdings sollten hier auch mögliche sozio-kulturelle Einflüsse berücksichtigt werden.

Körperhaltung, Mimik, Sprechen und Sprache, Gestik, Psychomotorik können in der reflektierten Wahrnehmung Ausdruck des psychisch-physischen Zusammenspiels sein, da hier wenig steuerbare, unbewusste Abläufe die Grundlage sind.

Ebenso bedeutsam ist eine gezielte Wahrnehmung von Besonderheiten im direkten Wohnumfeld, z.B. leerer Kühlschrank, karge Einrichtung, vermüllte Wohnung.

FREMDANAMNESE

Psychiatrische Erkrankungen können mit mangelnder Krankheitseinsicht oder der Unfähigkeit zur Selbstbeurteilung einhergehen. Zu bedenken ist auch, dass die Schilderung psychischer Einschränkungen häufig scham- und schuldbesetzt ist. Hier hat sich die Befragung von Bezugspersonen als sehr hilfreich erwiesen. Dies muss selbstverständlich für den Betroffenen transparent und am besten gemeinsam erfolgen. Ziel ist es, die Schilderungen des Betroffenen zu ergänzen und wichtige Hinweise auf Frühwarnsymptome, Verlauf früherer Episoden, Ausmaß der Einschränkungen zu erhalten. Grundsätzlich wird die vertrauensvolle Beziehungsarbeit mit dem Betroffenen und seinen Bezugspersonen angestrebt, die der sozialpsychiatrische Dienst in den häufig langjährigen, wiederkehrenden Phasen der meist chronifizierten Erkrankungen als Basis benötigt. Aus Gesprächen mit Familien bzw. Bezugspersonen können sich äußerst wichtige Anhaltspunkte für Beziehungsdynamik und Netzwerke sozialer Unterstützung ergeben.

Insbesondere im ÖGD ist auch die Befragung der in der speziellen Situation involvierten Personen (Nachbarn, Behörden, Polizei etc) relevant, da häufig nicht der Betroffene selbst den Kontakt zum Sozialpsychiatrischen Dienst sucht, sondern Dritte. Diese meist detektivische Erfassung der Zusammenhänge sollte ebenfalls anhand der vorgenannten Instrumente durchgeführt werden, da die Konkretisierung unspezifischer Berichte, z.B. “verwirrte Person” erst durch dauerhaft gezieltes Erfragen und Anbieten von Beispielen möglich ist. Hierzu zählt auch die Abgrenzung krankheitswertiger und behandlungsbedürftiger Zustände von sonstigen psychosozialen Krisen und Konflikten.

PSYCHOMETRIE

Zur Objektivierung bestehender Leistungsdefizite (z.B. im Bereich demenzieller Erkrankungen, Teilleistungsstörungen, Intelligenzminderung) stehen ergänzend valide Instrumente zur Verfügung, auch sprachungebunden, jedoch nicht kultursensibel. Zu einer ersten Einschätzung der kognitiven Leistungen können schon während der Untersuchung einfache, wenig zeitaufwändige Verfahren angewandt werden. (freie Versionen MMST, MOCA Demtect, d2 inklusive Auswertung). Eine Intelligenztestung ist aufwändiger und bedarf einschlägiger Erfahrung (WAIS-IV, MWT-B, Benton-Test etc).

Die psychometrischen Verfahren zur indikationsbezogenen und Persönlichkeits-Diagnostik sowie die umfassenderen Instrumente zur Leistungsdiagnostik liegen bislang nur als Lizenzverfahren vor. Daher ist für die Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes die Vorhaltung einer Standard-Testbatterie sinnvoll. Neben einem globalen Bewertungsinstrument wie der Symptom-Check-Liste (SCL 90) könnten dies beispielsweise indikationsbezogene Fragebögen (BDI II, DASS bei affektiven Erkrankungen) und strukturierte klinische Interviews (SKID I+II) zur Persönlichkeitsdiagnostik sein. 

Alle beschriebenen Untersuchungsabschnitte ergeben zusammen einen Gesamteindruck des psychischen Befindens mit unterschiedlicher Ausprägung der Symptome. Diese werden anhand der rein deskriptiven International classification of diseases (ICD 10 Kapitel F) in “Erkrankungspakete” wie affektive Störungen, psychotische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen gefasst und daraus die Behandlungsansätze abgeleitet. Dabei sind die einzelnen Symptome oder Symptomkomplexe von niedrigerem oder höherem Spezifitätsgrad. 

KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG

Die allgemeine und neurologische Untersuchung unterscheidet sich bei psychiatrischen Patienten nicht von anderen Patienten. Bei der apparativen Diagnostik können die Bildgebung des Gehirns (z.B. Ausschluss Tumor, entzündliche Veränderungen), Labordiagnostik (z.B. SD-Parameter, TPHA, Drogenscreening) und das EEG wichtige ergänzende Informationen geben. Eine gute somatische Abklärung aller Symptome sollte selbstverständlich sein.

VOM SYMPTOM ZUR DIAGNOSE

Neben dem stark operationalisierten ICD, welches durch die beschriebenen Untersuchungen stark symptom- und defizitorientiert zu einer Diagnose führt, benötigen wir für eine Codierung nach ICF, die neben Aussagen zu körperlichen Faktoren und psychischen Symptomen auch Angaben zu Aktivitäten, sozialer Teilhabe sowie den sogenannten Kontextfaktoren, die sich aus Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren zusammensetzen. Diese ebenfalls standardisierten Funktionen lassen sich am einfachsten mittels sogenannter Core-Sets, also einer Liste von ICF-Kategorien, die für die spezifischen Gesundheitsstörungen der Patientengruppe relevant sind, beschreiben. Mittels des Mini-ICF-APP können so z.B.  einfacher die Belange der Psychiatrie erfasst werden. Sie können die Beeinträchtigung alltagsrelevanter Funktionen präzisieren und stellen so eine Ergänzung dar, da sie gleichfalls neben der Beeinträchtigung Hinweise für Ressourcen bieten. Weitere hilfreiche Core-Sets und einfache Anwendungen stellt das Projekt “Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz”, der RehaDat ICF-Lotse und das ICF-Corse-Set zur Verfügung. Core Sets als krankheitsspezifische Zusammenstellung einiger „Kern-Items“ führen jedoch weder zu einer allgemeingültigen Beschreibung von individuellen Krankheitsfolgen und der damit assoziierten Behinderung noch zur umfassenden Ermittlung des individuellen zum Core Set passenden Unterstützungsbedarfes – u. a. deshalb, weil der Einfluss von personbezogenen Faktoren aufgrund des Fehlens einer zu deren Erfassung erforderlichen ICF-Systematik nicht strukturiert in die Überlegungen einfließt. Im klinischen Kontext wird dem Einfluss von Kontextfaktoren häufig nicht ausreichend Rechnung getragen, zumindest nicht in ihrer Gesamtheit, wobei es sicher erhebliche Unterschiede zwischen den Rehaeinrichtungen gibt. In anderen Zusammenhängen ist die Berücksichtigung der Kontextfaktoren insgesamt schwierig, weil die ICF nur für die Umweltfaktoren eine Systematik zur Verfügung stellt; für die personbezogenen Faktoren hingegen wird der Anwender von der WHO aufgefordert, sich selbst ein Bild zu machen. Somit erfassen die Kodes einschl. der vorgesehenen Beurteilungsmerkmale das Gesundheitsproblem und seine individuellen Auswirkungen nur unzureichend, denn aufgrund der erwähnten fehlenden Ausgestaltung können nicht alle Wechselwirkungen systematisch für die Erhebung der Funktionsfähigkeit berücksichtigt werden. Wo sie verwendet werden, erfolgt die Nutzung zur strukturierten Dokumentation und ggf. für die Kommunikation im Team sowie für die Strukturierung der rehabilitativen Interventionen. Sie sind deshalb als Erhebungsinstrumente für die Bedarfsermittlung und -feststellung sowie für eine darauf gründende Teilhabeplanung außerhalb eines klinischen oder anderen rehabilitationspraktischen Kontextes, auch im Rahmen der beruflichen Rehabilitation, nicht einsetzbar. Die ICF ist weder als Konzeption noch als Klassifikation mit Blick auf eine Kodierung ein Assessment, somit auch nicht in Form von Core Sets oder selektierten gruppierten Kodes gedacht; unter ICF-Experten ist dies fachlicher Konsens. 

Eine psychische Erkrankung und deren Verlauf kann maßgeblich durch die vorbestehende Einbindung in ein soziales Netzwerk, die bisherige Teilhabe und Partizipation oder deren Fehlen bestimmt werden.

Behandlung der Schwerpunkt-Diagnosen in der sozialpsychiatrischen Versorgung

Organische psychische Störungen

Für die sozialpsychiatrische Arbeit sind in dieser Diagnosegruppe vor allem die dementiell Erkrankten von Bedeutung. Auch wenn zahlreiche Unterformen der Demenz klassifiziert sind, sind allen Unterformen als Leitsymptome die anhaltende oder fortschreitende Beeinträchtigung des Gedächtnisses, der Orientierung, des Denkens und/oder anderer Hirnleistungen gemein. Oft treten im Verlauf weitere Symptome, etwa im zwischenmenschlichen Verhalten, affektiver oder wahnhafter Natur, hinzu. Demenzen sind vorrangig Erkrankungen des alternden Menschen, wie die untenstehende Grafik zeigt.

Abbildung 5: Mittlere Erkrankungshäufigkeit nach Altersgruppen (Quelle: Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2019)
Abbildung 5: Mittlere Erkrankungshäufigkeit nach Altersgruppen (Quelle: Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2019)

Durch die bekannte demografische Entwicklung mit steigender Lebenserwartung und besserer gesundheitlicher Versorgung wird diese Personengruppe in den nächsten Jahren in Relation größer werden. Hinzu tritt die allgemein-gesellschaftliche Entwicklung der Zunahme von Einzelhaushalten, vor allem im großstädtischen Kontext, was die frühe Erkennung und Intervention erschwert und damit auch große Relevanz in der aufsuchenden Hilfe im SpDi spielen wird.

Die Erscheinungsbilder verlaufen häufig schleichend, zunächst nur schwer gegen die übliche altersbedingte Vergesslichkeit abzugrenzen. Hier hat sich das oben beschriebene Instrumentarium des psychopathologischen Befundes und der Testung bewährt. Alle Verdachtsmomente sollten jedoch durch eine bildgebende Diagnostik untermauert werden, um etwaige behandelbare Differentialdiagnosen wie entzündliche Prozesse oder Neubildungen nicht zu übersehen. Die Demenzen gliedern sich in drei große Gruppen:

  • degenerativen Formen (z.B. Alzheimer-Demenz) mit 65-75%

  • vaskuläre Formen mit 15-20 %

  • gemischte Form mit 10-20%

Für diese Hauptformen liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine kausalen Therapiemöglichkeiten vor, allenfalls können mittels frühzeitig aufgenommene n kognitiven Trainings, Gruppentherapie (z.B. Erzähl- oder Leserunden) und Bewegung vorübergehend alltagsrelevante Verbesserungen erzielt werden. Bei der Demenz vom Alzheimer-Typ haben Acetylcholinesterasehemmer, eingesetzt in der Frühphase der Erkrankung, eine kurzzeitig aufschiebende Wirkung gezeigt. Bei den vaskulären Demenz-Typen kann die Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern sinnvoll sein.

In der sozialpsychiatrischen Arbeit ist es wichtig, wachsam gegenüber Meldungen von Nachbarn, Angehörigen etc. zu sein, die typischen Veränderungen wie Vernachlässigung der Wohnung und der Haushaltsführung, Hortungstendenzen, Vernachlässigkeit der Körperpflege und Vergesslichkeit melden. Hier ist dann, gemeinsam mit den sozialen Diensten, eine vorausschauende Planung, auch gemeinsam mit dem Betroffenen, wichtig. Der schmerzliche Prozess innerhalb der dementiellen Erkrankung, nach und nach die Kompetenz für das eigene Leben zu verlieren, bedarf Begleitung und ebenso prozesshaftes Einführen der Hilfen, z.B.

  • Essen auf Rädern

  • ambulanter Pflegedienst

  • Medikamentenversorgung

  • später Einrichten einer gesetzlichen Betreuung und Besuch einer Tagespflegestätte, ggf. Wohnheimversorgung.

Wenn die ersten Zeichen nicht erkannt oder Hinweise des sozialen Umfeldes aus falsch verstandener Rücksicht nicht beantwortet werden, besteht die Gefahr der raschen Eskalation und des scheinbar plötzlichen Zusammenbrechens der Versorgung, die dann in verfrühtem Verlust des eigenständigen Wohnens münden kann.

Herausfordernd sind neben den typischen Demenz-Symptomen die Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Betroffenen. Nicht selten erscheinen die Erkrankten wahnhaft verändert, wähnen z.B. Einbrecher in der Wohnung, wenn vertraute Gegenstände nicht wiedergefunden werden, reagieren aggressiv auf vermeintliche Eindringlinge oder werden über den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben depressiv. Hier kann in Einzelfällen eine symptomatische, auch psychopharmakologische Behandlung sinnvoll sein. Im Blick des Sozialpsychiatrischen Dienstes muss auch das soziale Umfeld sein, das auf diesem Weg des absehbaren schleichenden Verlustes Unterstützung in Form von Selbsthilfegruppen und auch mittels Anleitung durch das Hilfesystem benötigt.

Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen  

Mit einer Prävalenz von 6-8% sind die Suchterkrankungen in der gesundheitlichen Versorgung sehr relevant, allerdings spielen in der sozialpsychiatrischen Arbeit die Alkoholkrankheit, Abhängigkeit von Amphetaminen, Cannabis und die Opiat (polytoxe) Abhängigkeit und deren Folgen die größte Rolle. Abhängigkeit wird definiert durch starkes, unstillbares Verlangen, Toleranzentwicklung und psychische wie physische Entzugserscheinungen. Grob kann man zwischen den eher dämpfenden, entspannenden Suchtmitteln (Morphin-Typ, Barbiturat/Alkohol-Typ) und den aktivierenden, Vigilanz steigernden (Amphetamine, Kokain-Typ) unterscheiden. Gemein ist den Suchtstoffen, dass sie mit den Belohnungssystemen im Gehirn in Hinblick auf Vermittlung von Wohlbefinden und Euphorie korrespondieren. Bei der Entwicklung einer Abhängigkeit wird von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen, neben biologischen Faktoren spielen das Familienmilieu, verfehlte Zielerreichungsbalance und physiologische Sensitivierungsprozesse des dopaminergen Systems eine Rolle.

Die Alkoholabhängigkeit entwickelt sich häufig schleichend mit anfänglichem Trinken zur Spannungsreduktion mit leichter Toleranzentwicklung und geht über in die sogenannte Prodromalphase, in der schon morgens heimlich getrunken wird, wobei Schuldgefühle und Verleugnung typisch sind. Erste körperliche Symptome wie Gedächtnislücken tauchen auf. In der kritischen Phase kommt es zu einer zunehmenden Interessenseinengung, Kontrollverlust beim Trinken, zunehmenden sozialen und körperlichen Problemen. Hier kann es zu einer Umkehr der Toleranzentwicklung kommen. Im chronischen Stadium besteht das Leben häufig nur noch aus Konsum mit verlängerten Rauschzuständen und komorbid auftretenden affektiven Symptomen.

In Deutschland herrscht in Bezug auf den Alkoholkonsum eine „permissiv-funktionsgestörte Kultur“ (nach Bales), die sich durch eine ständige Verfügbarkeit und soziale Funktion (´ein guter Wein zum Essen`, Stammtisch, nahezu alle gesellschaftlichen Anlässe starten mit einem alkoholischen Getränk) des Suchtstoffs mit zunehmender Toleranz gegenüber Exzessen auszeichnet. Allerdings besteht eine deutliche Stigmatisierung der Suchterkrankung und der teilweise daraus folgenden Verelendung. Dies erfordert die Reflexion der Behandler bezüglich der eigenen Haltung zum Alkoholkonsum und die Notwendigkeit, nicht gemeinsam mit dem Betroffenen in die Verleugnungsfalle zu geraten, sondern in der Exploration das Thema direkt und regelhaft anzusprechen und zu benennen. Neben den bekannten somatischen Folgeerkrankungen können einerseits die häufige psychische Co-Morbidität mit affektiven Erkrankungen als auch Folgezustände wie das mnestische Syndrom (früher “Korsakow-Syndrom”) benannt werden.

Die Behandlung der Alkoholabhängigkeit beginnt mit der Motivationsarbeit und der Entwicklung von Möglichkeiten, was an die Stelle des Alkohols treten kann. Mit einer Heilungsrate von nur ca 50% benötigt die Begleitung von alkoholkranken Menschen einen langen Atem. Neben den medizinisch notwendigen Schritten der qualifizierten Entzugsbehandlung im SGB-V-Bereich und der nachfolgenden Entwöhnungsbehandlung im Rahmen einer stationären oder ambulanten Rehabilitation (z.B. über die Rentenversicherung finanziert) benötigt der Erkrankte parallel die Anbindung an ein niedrigschwelliges soziales Hilfesystem mit Selbsthilfegruppe und/oder an ambulant betreutes Wohnen für Suchtkranke nach dem BTHG. Je nach Stadium der Erkrankung kann auch eine hochfrequente psychotherapeutische Begleitung sinnvoll sein. Langfristiges Ziel der Behandlung ist die Abstinenz, allerdings wird dies inzwischen selbst beim Alkohol kontrovers diskutiert. Bei den Suchtkranken, mit denen es der SpDi zu tun hat, geht es erst einmal um Risiko- und Schadensminderung (harm reduction). Das funktioniert meist nur mit einem akzeptierenden Ansatz.      

Häufig ist man in der Arbeit im Sozialpsychiatrischen Dienst auch mit Patienten konfrontiert, die an einer drogeninduzierten Psychose erkrankt sind - deshalb an dieser Stelle ein paar spezifische Hinweise zu dieser Personengruppe.

In ICD 10 lautet die Definition: Eine Gruppe psychotischer Phänomene, die während oder nach dem Substanzgebrauch auftreten, aber nicht durch eine akute Intoxikation erklärt werden können und auch nicht Teil eines Entzugssyndroms sind. Die Störung ist durch Halluzinationen (typischerweise akustische, oft aber auf mehr als einem Sinnesgebiet), Wahrnehmungsstörungen, Wahnideen (häufig paranoide Gedanken oder Verfolgungsideen), psychomotorische Störungen (Erregung oder Stupor) sowie abnorme Affekte gekennzeichnet, die von intensiver Angst bis zur Ekstase reichen können. Das Sensorium ist üblicherweise klar, jedoch kann das Bewusstsein bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt sein, wobei jedoch keine ausgeprägte Verwirrtheit auftritt.

Bei einem relevanten Anteil der Personen mit Neuerkrankungen an Psychosen besteht ein erheblicher und regelmäßiger Gebrauch von Cannabinoiden im jugendlichen Alter im Vorfeld der Erkrankung. Oft lässt sich auch bei eingehender Anamnese-Erhebung nicht klären, ob erste mögliche Prodromalsymptome dem ersten THC-Konsum vorangegangen sind oder umgekehrt. Vielfach besteht kein Abstinenzwunsch, vielmehr wird die Cannabinoidwirkung als heilsam wahrgenommen, und nicht mit dem Auftreten der in der Regel als unangenehm erlebten psychotischen Symptome kausal verknüpft, sondern wegen dieser intensiviert, bzw. bei erster Gelegenheit wiederaufgenommen, sodass nicht beurteilbar ist, ob die Symptomatik nach längerer Abstinenz auch ohne Neuroleptikagabe abklingt.

Wegen der das Bild dominierenden psychotischen Symptomatik und der fehlenden Abstinenzbereitschaft sieht das Suchthilfesystem keinen Handlungsansatz, aufgrund der fortgesetzten Zufuhr des schädigenden Agens bleiben die Möglichkeiten einer psychiatrischen Behandlung sehr begrenzt, selbst wenn die betroffene Person bereit ist, Neuroleptika einzunehmen. Ein Teil der Personen kann durch spezifische psychoedukative Programme und ein strukturiertes Milieu motiviert werden, den Konsum zu reduzieren und ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen Konsum und Psychose zu entwickeln. Inzwischen gibt es es vereinzelt auch Maßnahmen der Eingliederungshilfe über das BTHG, wie z.B. eine therapeutische Wohngemeinschaft für Menschen mit einer sogenannten Doppeldiagnose.

Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störung

In der Arbeit des SpDi stellen die davon betroffenen Menschen eine weitere bedeutsame Gruppe mit besonderen Herausforderungen dar. Das Spannungsfeld entsteht durch das Wissen um die Abhängigkeit der Prognose vom frühzeitigen Behandlungsbeginn. Die schizophrenen Erkrankungen zeigen im Verlauf eine grobe Drittel-Aufteilung:

  • 30% der Erkrankten erleben eine Remission oder einen guten Verlauf,

  • 30% können unter Behandlung mit leichten Einschränkungen des Alltagslebens leben,

  • 30% verlaufen chronisch, verbunden mit erheblichen Einschränkungen.

Neben den Leitsymptomen wie Wahn, Beeinträchtigungserleben, Sinnestäuschungen (z.B. Stimmen-Hören) und nicht einfühlbaren Verhaltensweisen sind die Krankheitsuneinsichtigkeit und eine entsprechend eingeschränkte Inanspruchnahme von Hilfsmaßnahmen typisch für die Betroffenen mit schizophrenen Erkrankungen. Hier bedarf es viel Einfühlungsvermögen und der Bereitschaft, sich in die Gedankenwelt des Gegenüber einzulassen, um einen Zugang und letztlich das Vertrauen zu erreichen. Nachvollziehbar erlebt der Kranke große Emotionalität, mit Verzweiflung, Wut, mangelndem Verständnis bis hin zu Abscheu in seiner Umgebung, durch Familie, Freunde, Arbeitgeber oder Nachbarn. Die Not ist groß. Alle Mitmenschen möchten die betroffene Person dringend in Behandlung wissen, auch gegen deren Willen und meist mit den allerbesten Absichten. Allerdings kommt es nicht selten durch die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten sowie Zuständigkeits-Diskussionen zu Eskalationen, die schließlich in die völlige soziale Isolation der Betroffenen führen können.

Die Erkrankung tritt am häufigsten im frühen Erwachsenenalter auf, die Lebenszeitprävalenz liegt bei etwa 1%, wobei Männer durchschnittlich drei Jahre früher erkranken als Frauen. Diagnostisch lassen sich die F2-Störungen durch die Expressivität der Symptome, Verlauf und Behandelbarkeit differenzieren. Verlaufsformen mit dem Schwerpunkt auf sogenannte Plussymptomatik zeichnen sich durch produktive Symptome wie Halluzinationen, Wahn und formale Denkstörungen aus. Ebenso gibt es Verläufe mit Minussymptomen wie Denkverarmung, Antriebsminderung und Rückzug. Die Letztgenannten begleitet eine häufig schlechtere Prognose, allerdings können auch die vorwiegend mit Plussymptomatik belastenden Menschen in einen aus Minussymptomatik geprägten Residualzustand geraten.

Episodische Verlaufsformen mit gleichzeitig affektiven und psychotischen Symptomen werden als schizoaffektive Psychosen bezeichnet; sie zeigen eine bessere Prognose. Auf neurobiologischer Ebene werden Struktur- und Substanzdefizite vermutet, die vor allem integrative Prozesse der Reizverarbeitung sowie das Denken und Handeln betreffen. Sie sind Ausdruck der fortgesetzten Reiz- und Informationsüberflutung. Auf Rezeptorebene wird eine Dysbalance der Neurotransmitter mit einem Dopaminüberschuss angenommen. Epigenetisch wirksam scheinen auch Life-Events, Stressoren und langdauernde Konfliktsituationen zu sein, die den Krankheitsverlauf im Anfangsstadium beschleunigen und auch prolongieren können (Vulnerabilitäts-Stress-Modell).

Abbildung 6: Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Abbildung 6: Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Diese Tatsachen können wichtig sein in der psychoedukativen Aufklärung des Patienten wie des Umfelds.

Die paranoide Schizophrenie ist mit 70% die häufigste Form. Neben den genannten Ursachen ist bei dieser Form auch an die drogeninduzierte Variante zu denken und in der Exploration zu erfragen.

Nach einem unspezifischen Prodromalstadium, was in der Rückwärtsbetrachtung Aufschlüsse auf sogenannte Frühsymptome geben kann, treten meist Wahn, Halluzinationen und formale Denkstörungen wie Zerfahrenheit und starkes Beeinflussungserleben in den Vordergrund. Häufig sind große Ängste unter der aggressiven Abwehr spürbar, da die Erkrankten die Denkinhalte und Wahrnehmungen als unverrückbare Realität erleben und Versuche, sich anzunähern und von anderen Inhalten zu überzeugen, als große Bedrohung wahrnehmen. Deshalb sollte man als Grundhaltung ein akzeptierendes Verstehen einnehmen und der Informationsverarbeitungs-Störung damit Rechnung tragen, dass alle Inhalte sachlich, knapp und verständlich dargebracht werden. Neben der benannten Psychoedukation ist in den akuten Stadien eine Begleitung der Betroffenen in der Tagesstruktur hilfreich, da die “verrückte” Situation zu einer starken Desorganisation führt und eine Struktur von außen wieder Sicherheit vermitteln kann. Dies ist auch Grundlage des gemeindepsychiatrischen Begleitens, z.B. durch betreutes Wohnen oder berufsrehabilitative Maßnahmen.

Wichtige Säulen der Behandlung der schizophrenen Erkrankungen sind die Psychopharmakotherapie und Psychotherapie. In der Akutphase hat sich das behutsame Aufdosieren der ausgewählten antipsychotischen Medikation als zielführend erwiesen. Bei Abklingen der Symptomatik sollte die medikamentöse Behandlung mit der niedrigsten erforderlichen Dosis fortgesetzt werden, ggf. in Depotform.

Unerwünschte Arzneimittel-Wirkungen (UAW) sind der häufigste Grund der verbreiteten Non-Compliance. Berichten von Betroffenen ist zu entnehmen, dass das Denken und Empfinden im Schub neben den unangenehmen auch zahlreiche reiche Momente voller wichtiger Gedanken und Gefühle und auch Zeiten des Besonderen beinhalten. Durch den Einsatz von Neuroleptika werden sie als nur noch gedämpft und zusätzlich mit quälenden UAW wie sexuellen Funktionsstörungen, Bewegungseinschränkungen und Müdigkeit erlebt.

Kritisch sind die Zeiten nach erfolgter Behandlung, wenn sich die Person wieder den Anforderungen des Alltags und des Umfelds stellt - unabhängig von der Qualität der Remission. In dieser Zeit ist das Suizidrisiko höher als in der akuten Psychose. Hier treten die SpDi und der GPV in der Begleitung der weiteren Behandlung und sozialen wie beruflichen Rehabilitation ein.

Affektive Störungen

Bei den affektiven Störungen sind insbesondere Stimmung, Antrieb und Denken (inklusive Ausrichtung der Interessen und Zukunftssicht) beeinträchtigt. Wir unterscheiden hier die unipolaren (in eine Richtung) Störungen depressiv (65%) und manisch (5%) von den bipolaren Störungen (30%), die mehr oder weniger rasche Wechsel zeigen. Diese sehr häufige (Prävalenz 10%) Erkrankung mit durchschnittlich guter Prognose beschäftigt den Sozialpsychiatrischen Dienst vor allem in seinen seltener vorkommenden schweren Verläufen. Allgemein wird beobachtet, dass die affektive Co-Morbidität bei allen psychiatrischen Erkrankungen hoch ist. Auch bei der Gruppe der affektiven Störung wird von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen. Es zeigen sich deutliche familiäre Häufungen und eine wohl zugrundeliegende Neurotransmissions-Störung von Noradrenalin und Serotonin mit einer gleichzeitigen postsynaptischen Rezeptor-Minderempfindlichkeit. Ebenso wird eine Störung des Stresshormonhaushaltes angenommen.

Die Behandlung der depressiven Erkrankung richtet sich nach dem Schweregrad der vorliegenden Episode. Das deskriptive System der ICD-10 gliedert Haupt- und Nebensymptome auf und teilt nach der Anzahl deren Vorliegens ein. Im praktischen Vorgehen hat sich jedoch die Schwere der alltäglichen Belastung als tragfähiger Anhaltspunkt erwiesen. Sobald die Versorgung des Haushalts sowie die Bewältigung der persönlichen Angelegenheiten und des beruflichen Alltags eingeschränkt oder erschwert sind, muss von einer mittelschweren depressiven Episode ausgegangen werden. Hier ist eine Kombination aus antidepressiver Medikation und Psychotherapie am wirksamsten, zumal die Medikation eine Psychotherapiefähigkeit gerade erst herstellen kann. Körperliche Bewegung, ausreichend Sonnenlicht und Schlafrestriktion bzw. Schlafentzug zeigen ebenfalls nachweisbare Wirkung. Im gleichen Umfang wie eine medikamentöse Behandlung kann bei einer singulären Episode nach einem Jahr durchgehender Einnahme über das Ausschleichen nachgedacht werden. Schon bei der zweiten Episode ist eine Langzeitprophylaxe anzuraten. Rasches Absetzen der Medikation bei Remission führt sehr häufig zu Rezidiven und birgt die Gefahr eines impulshaften Suizidversuchs.

Die Depression kommt zunächst so „normal“ daher, jeder Mensch kennt Phasen der Trauer und Lustlosigkeit, allerdings lassen sich diese situativ auflockern. Der depressive Mensch steckt in einer kaum vorstellbaren Tiefe fest, die häufig Leere und Gefühllosigkeit beinhaltet. Angehörige können dies oft nur schwer nachempfinden oder fühlen sich schuldig (bei Konflikten), wollen etwas tun und aufmuntern, bauen nach und nach Druck auf, womit ein negativer Kreislauf beginnen kann. Der Kranke selbst fühlt sich ebenso schuldig für sein Versagen und schämt sich, „es nicht zu schaffen“. In dieser ganz häufigen Konstellation hilft Psychoedukation für Betroffene und Angehörige enorm weiter.

Eine Episode kann Wochen bis 4-5 Monate oder länger andauern, die Prognose ist gut, lediglich 10% chronifizieren. Bei Therapieresistenz oder wiederholten schweren Verläufen hat sich die Elektro-Krampf-Therapie oft als hilfreich erwiesen. Bei den bipolaren affektiven Störungen treten manische Episoden hinzu. Bei gleichem phasenhaften Verlauf sind die symptomfreien Intervalle hier kürzer und die Chronifizierungsrate beträgt 20-30% mit einer hohen Suizidmortalität. Der Katecholamin-Stoffwechsel zeigt anhaltende Störungen in beide Richtungen. Das zusätzliche manische Verhalten (schnelles Sprechen und Denken, Enthemmung, Selbstüberschätzung etc.) birgt Gefahren wie Verschuldung und andere Risiken, die die Familie miteinschließen können. Neben der Psychoedukation kann hier im Sinne eines vorbereitenden Patientenvertrags auch ein Einwilligungsvorbehalt nach dem Betreuungsrecht (siehe ebenda) sinnvoll sein. Parallel zur Behandlung der Zielsymptomatik (depressiv vs. manisch) ist die dauerhafte Einnahme eines Phasenprophylaktikums angezeigt.

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen  

Diese Gruppe von Erkrankungen fasst sehr unterschiedlich einschränkende Symptomkomplexe zusammen. Gemein ist ihnen der Beginn und ein andauernd tief gestörtes Verhaltensmuster seit früher Jugend, was sie von den anderen psychischen Störungen unterscheidet. ICD-10 GM 2017 beschreibt in den allgemeinen Leitlinien dazu „deutliche Unausgeglichenheit in Einstellung und Verhalten in mehreren Funktionsbereichen.”

Das können sein:

  • Affektivität

  • Antrieb

  • Impulskontrolle

  • Wahrnehmung und Denken

  • Beziehung zu anderen.

Die Betroffenen zeigen bei schwerem Grad der Ausprägung erhebliche Einschränkungen der beruflichen und sozialen Einbindung durch fortgesetzte interaktionelle Schwierigkeiten. Dabei unterscheidet sich das individuelle Leiden auch deutlich, meist fußend auf einer starken Inkongruenz aus internem und externem Erleben.

Eine grobe Charakterisierung der Subtypen (ebenfalls nach ICD-10 GM 2017) teilt die Persönlichkeitsstörungen nach sonderbar-exzentrisch (paranoid, schizoid), dramatisch-emotional (dissozial, emotional-instabil, narzisstisch) und ängstlich-vermeidend (selbstunsicher, dependent, zwanghaft) ein. Ätiologisch werden neben einer genetischen Anlage epigenetische Einflüsse durch Stresshormone in Schwangerschaft und postpartaler Phase ebenso angenommen wie eine Dysregulation im serotonergen wie noradrenergen System. Dies wird für die Störung der Impulskontrolle, die Übererregbarkeit und eine Häufung komorbider Störungen in Richtung affektiver Störungen und Abhängigkeitserkrankungen verantwortlich gemacht. Dazu treten dann die Auswirkungen eines mehr oder weniger förderlichen Familienmilieus mit ungünstigen Vorbild- bzw. Nachahmungsfunktionen, sowie Bindungstörungen und sequentielle Traumatisierungen.

Die Behandlung gestaltet sich insgesamt schwierig und bedarf einer lang angelegten Beziehungsgestaltung und einer hohen Frustrationsbereitschaft beim Behandler. Persönlichkeitsgestörte Menschen erleben häufig als stabilste Form der Beziehung die Ablehnung, sodass wohlwollendes Vorgehen des Gegenübers meist zunächst idealisiert, aber auch stetig überprüft und misstrauisch betrachtet wird. Da das „Überschwappen der Emotionen“ (sogenannte projektive Identifikation) auch ein Ausdruck mangelnder Wahrnehmung der eigenen und der Gefühlswelt anderer sein kann, ist dieses Symptom als solches zu verstehen und kann als Einstieg für das Verständnis wertvoll sein. Die Prognose der Persönlichkeitsstörung ist auch aufgrund einer nicht vorhandenen Ursachenbehandlung weniger gut. Als hilfreich hat sich unter anderem ein verhaltenstherapeutisches Training von Alltagsfertigkeiten und Üben adäquater Verhaltensweisen in Verbindung mit emotionaler Selbstkontrolle erwiesen. Hierbei kann der SpDi durch ein stabiles Angebot mit klaren Verhaltensregeln sehr dienlich sein, um eine positive Interaktion im Sozialraum zu unterstützen.

Psychiatrische Notfälle

Prinzipiell ist in Psychiatrischen Notfallsituationen eine ruhige Beziehungsgestaltung mit knapper, zielgerichteter Kommunikation wichtig. Erläutern Sie jeden Schritt langsam und in kurzen Sätze. Wahren Sie emotionale Distanz, auch in Situationen, in denen der Betroffene verletzend und beleidigend agiert. Führen Sie möglichst kursorische körperliche Untersuchungen und unbedingt Fremdanamnese bezüglich der Begleitumstände der Situation durch. Die häufigsten Notfallsituationen sind durch Erregungszustände und Intoxikationen bestimmt. Sie machen allein 10% aller Notaufnahmen in deutschen Krankenhäusern aus.

Erregungszustand

Das Endbild des Erregungszustandes, mit Antriebssteigerung, emotionaler und motorischer Enthemmung bis zum Kontrollverlust, kann verschiedene Ursachen haben und kann mit fremd- aber auch mit selbstgefährdendem Verhalten einhergehen. Die häufigsten Ursachen sind akute Intoxikation, akuter Schub einer Schizophrenie, manische Episode und akute Belastungsreaktion. Aufgrund der Vielfalt der Gründe ist eine gute Anamnese und Diagnostik essenziell! Das erfordert ruhiges, sachliches Auftreten und klare, deutliche Ansprache, auch bei verbalen Übergriffen durch den Patienten. Eine ständige Überwachung muss sichergestellt sein. Bei psychotischen oder suchtmittelassoziierten Zuständen empfiehlt sich der parenterale Einsatz typischer Antipsychotika, bei nichtpsychotischer Erregung hat sich die parenterale Gabe von Benzodiazepinen bewährt.

Bewusstseinsstörung / akute Verwirrtheit

Beide Symptome sind Anzeichen zahlreicher Erkrankungen, bedürfen einer ausführlichen Diagnostik und sollten nicht mit Psychopharmaka “maskiert” werden. Bei der Bewusstseinsstörung ist die Wachheit, bei der akuten Verwirrtheit die Orientierung eingeschränkt. Neben Intoxikationen jedweder Art kommen neurologische und internistische Erkrankungen als auslösend in Frage. Eine stationäre Überwachung mit Sicherung der Vitalfunktionen und apparativer Diagnostik ist als erster Schritt empfohlen.

Panikattacke

Plötzliches Gefühl der nahenden Vernichtung, begleitend durch Herzrasen, Schwitzen, Engegefühl in der Brust und große Unruhe. DD Drogenkonsum! Meist reichen verbindliches ruhiges Auftreten und Erläuterung des Phänomens schon aus. Die Einmalgabe eines schnell wirksamen Benzodiazepins kann hilfreich sein.

Akute Suizidalität

Unmittelbar bevorstehende Handlung mit verfügbarer bzw. durchführbarer Methode und fehlender Möglichkeit, die Umsetzung verlässlich aufzuschieben. Psychologische Untersuchungen im Umfeld belegen bei Suizidenten das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung in 90% der Fälle. Dabei handelt es sich in abnehmender Reihenfolge um affektive Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, Schizophrenien oder Persönlichkeitsstörungen. Es ist zu unterscheiden zwischen Zuständen eines längeren sozialen Rückzugs mit zunehmender Isolation und impulshaften, unter Umständen wahnhaft bedingten Situationen. Bei knapp 10.000 vollendeten Suiziden in Deutschland wird von 10 mal so vielen Versuchen ausgegangen. Vorangegangene Versuche bilden neben dem männlichen Geschlecht, jugendlichem oder höherem Alter und Suiziden in der näheren Umgebung oder Familie weitere Risikofaktoren. Der Anamnese und dem konkreten Benennen und Nachfragen kommt somit eine wichtige Rolle zu. Bei festgestellter akuter Suizidalität sollten die Betroffenen bis zur Klärung der Situation auf gar keinen Fall mehr allein gelassen werden. Hilfreich sind eine ruhige Ansprache, die Begleitung in Behandlung sowie der Verzicht auf Werten oder Moralisieren. Auf jeden Fall sollten erkennbare Gegenstände oder Mittel für die Durchführung eines Suizidversuches entfernt werden. Nach Entaktualisierung haben sich verhaltenstherapeutische Strategien wie Lebensvertrag bzw. Notfallplan bewährt und sollten dementsprechend etabliert werden.

Prädelir, Delir

Die Kombination von quantitativer (Wachheit) und qualitativer (Orientierung) Bewusstseinsstörung, Halluzinationen, Unruhe und starker vegetativer Reaktion (Fieber, Übelkeit, Schwitzen, Herzrasen) fasst unter dem Namen Delir Formen einer akuten organischen Psychose unterschiedlichster Genese zusammen. Mit an die 20% Letalität und vor allem im hohen Alter mit bis 25% bleibenden kognitiven Defiziten muss der Früherkennung und Verhütung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Intoxikation

Folgeerscheinungen absichtlicher oder akzidenteller Überdosierung von Drogen oder Medikamenten. Neben der eigenen (wenn möglich!) die Fremdanamnese erheben, Drogenscreening, Labor und Überwachung. (Hilfreich zur Veranschaulichung siehe: Tabelle 13.4.: Symptome bei Intoxikation (S. 309) und Tabelle 13.5: Therapiestrategien bei Drogennotfällen (S. 310) aus Payk T.R. & Brüne M. Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie (2013) Thieme Verlag.)

Katatonie / Stupor

Führendes Symptom ist eine komplette Erstarrung - der Patient ist reglos, stumm, amimisch, kann in bizarren Haltungen verharren. Er ist gleichermaßen bewusstseinsklar und meist innerlich hochgradig angespannt. Im Gegensatz zum Rigor im katatonen Zustand kann der Tonus beim Stupor locker sein und der Patient noch sehr langsame Bewegungen zeigen. Auch der katatone Stupor ist ein Stupor, der nicht katatone Stupor hat nur nicht die spezifischen Merkmale des katatonen. Katatonie (im ICD 10 noch eine Unterform der Schizoprenie) kann sich außer als Stupor auch als Erregungszustand äußern. Ursächlich können schizophrene Psychosen, schwere affektive Störungen oder Traumata sein. Durchgehende Überwachung mit Sicherung der Vitalfunktionen notwendig-stationäre Einweisung

  •  im Fall der affektiven Störung Trizyklika p.o + Lorazepam i.m.

  • bei schizophrener Psychose Typika + Lorazepam i.m.

Malignes neuroleptisches Syndrom

Durch den vermehrten Einsatz atypischer Neuroleptika als Regelmedikation ist dieses Syndrom seltener geworden, durch die möglichen Spätkomplikationen wie Nierenversagen sollte es weiterhin bekannt und vor allem rechtzeitig erkannt werden. Es tritt in den ersten Wochen der Behandlung oder nach Dosissteigerung auf, wahrscheinlich durch eine Blockade der Dopaminrezeptoren. Neben Rigor, Akinese und Stupor tritt typischerweise sehr hohes Fieber hinzu. Das Neuroleptikum muss sofort abgesetzt werden, Dantrolen per os oder intra venös und symptomatische Behandlung durchgeführt werden.

Rechtsgrundlagen

Gesundheitsdienstgesetze der Länder

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den öffentlichen Gesundheitsdienst sind durch die Gesundheitsdienstgesetze (GDG) der jeweiligen Länder geregelt.

Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitshilfe für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen werden überwiegend in den unteren Gesundheitsbehörden durch den Sozialpsychiatrischen Dienst geleistet. Da gemäß der föderalen Ordnung Deutschlands die Bundesländer für die Gesundheitsversorgung verantwortlich sind, ist auch die Ausgestaltung dieses Fachbereichs bundesweit sehr unterschiedlich geregelt. Einige Bundesländer haben diese Aufgabe an freie Träger delegiert.

Die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze der Länder

Originär sind die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze (PsychK(H)G) als Ländergesetze aus dem Polizeirecht zur Gefahrenabwehr gewachsen und werden in dieser Form nur noch im Saarland als sogenanntes Unterbringungsgesetz vorgehalten.

Heute wird dem leitenden Präventions- und Fürsorgegedanken für psychisch erkrankte Menschen durch die jeweiligen PsychK(H)Gs ein gesetzlicher Rahmen gegeben und damit auch der Arbeit der Sozialpsychiatrischen Dienste wie sie bereits in der Psychiatrie Enquete gefordert war. Entgegen den früheren Ansätzen der reinen Gefahrenabwehr ist damit ein zentraler Gedanke Unterbringungen zu vermeiden indem eine umfangreiche, bedarfsgerechte Versorgung psychisch Kranker in der Gemeinde ermöglicht werden soll. In den jeweiligen Gesetzen werden daher die Hilfen und Versorgungsstrukturen ausgeführt die vorhanden sein sollen. Befugnisse der Polizei des Ordnungsamtes, des SpDi, u.U. des Maßregelvollzugs[1], Träger der Hilfen, Koordination der Hilfen und verschiedene Arbeitsgemeinschaften und vieles mehr geregelt.

Die PsychK(H)Gs sind im Rahmen der föderalen Strukturen in Deutschland inhaltlich abweichend und müssen daher jeweils gesondert nach Dienstort betrachtet werden und bekannt sein, siehe Tabelle 123. Wichtig ist dabei auch die kommunalen Gegebenheiten und Ausführungen zu kennen, die sich zum Teil auch innerhalb des Bundeslandes unterscheiden können.

Gemeinsam ist den PsychK(H)Gs jeweils, dass dort die Hilfen für psychisch Erkrankte, die notwendig sind, um die Erkrankung zu, das Fortschreiten zu verhüten und/oder die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Damit soll auch der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Betroffenen entgegengewirkt und ihre soziale Wiedereingliederung ermöglicht werden. In der Behandlung psychisch Kranker gilt es dem Leitgedanken ambulant vor stationär immer Rechnung zu tragen, vor allem auch mit dem Ziel Zwangsmaßnahmen wie Unterbringungen zu vermeiden (siehe Abbildung 4).

Abbildung 7: Leitgedanken für die Intervention in der Krise (nach Götz T.)
Abbildung 7: Leitgedanken für die Intervention in der Krise (nach Götz T.)

Die Hilfen werden im Geist  der mit der Psychiatrie Enquete begonnenen und immer noch andauernden Reformbewegung gestaltet. Mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention und darauf basierender Urteile des Bundesverfassungsgerichts wurden Novellierungen in der Gesetzgebung des Bundes (BGB) und der PsychK(H)G´s der Länder erforderlich.

Zweck der gesetzlichen Vorgaben ist es dem definierten Personenkreis psychisch kranker einschließlich suchtkranker oder von psychischer Krankheit (einschließlich Sucht) bedrohter Menschen, beziehungsweise Menschen, bei denen Anzeichen einer solchen Krankheit, Störung oder Behinderung vorliegen, ein menschenwürdiges, möglich selbstbestimmtes und eigenverantwortliches, gemeindenahes Leben in den gewohnten Lebensverhältnissen zu ermöglichen.

Dafür gilt es bestimmte Hilfen und Angebote vorzuhalten:

  • vorsorgende Hilfen zur rechtzeitigen Erkennung und Behandlung (frühzeitige Beratung und persönliche Betreuung, soziale Unterstützung und Begleitung, Vermittlung geeigneter Hilfsmaßnahmen immer unter dem subsidiären Aspekt, Untersuchungen insbesondere ärztliche Diagnostik)

  • begleitende Hilfen um mit der Krankheit zu leben, Besserung zu erreichen und Verschlimmerung zu vermeiden, aber auch um Unterbringungen zu vermeiden oder zu verkürzen

  • nachsorgende Hilfen um nach einer (teil-)stationären Behandlung eine Wiedereingliederung zu ermöglichen und möglichst eine erneute Unterbringung zu verhindern

  • Angehörigenarbeit mit Beratung und ggf. Betreuung (zur Entlastung und Unterstützung, um Verständnis für die besonderen Lebenslagen der Betroffenen zu entwickeln aber auch um die Bereitschaft zur Mitwirkung zu erhalten und zu fördern)

  • psychosoziale Krisenintervention einschließlich Unterbringung zur Gefahrenabwehr bei Eigen- oder Fremdgefährdung (im Vorfeld sollen dabei verschiedene Hilfen und Kontaktangebote, Einladung in Sprechstunden, Hausbesuche, zwangsweise Vorladungen, um eine Unterbringung zu vermeiden erfolgt sein). Die Unterbringung sollte erst erfolgen wenn keine hinreichenden Alternativen mehr zur Verfügung stehen; siehe Unterbringungskapitel.

Die Durchführung der Hilfen erfolgt durch:

  • Sozialpsychiatrische Dienste, die multiprofessionell beraten und betreuen. Dafür sollen Sprechstunden vorgehalten werden, Hausbesuche durchgeführt, individuelle Hilfen vermittelt und subsidiär Hilfen und Betreuung gewährt werden

  • enge Kooperation und Schnittstellenarbeit zu allen Versorgern und Behandlern insbesondere auch:

-- Planung und Koordination des Versorgungssystems mit z.B. GPVs, PSAGs, anderen Arbeitskreisen und Verbünden, Psychiatrie-Beiräten oder auch durch Psychiatriekoordinatoren:

-- Vermittlung und Vorhaltung von individuellen passenden Hilfen wie Betreutes Wohnen, tagesstrukturierende und andere komplementäre Angebote sowie beschützte Arbeitsplätze

-- psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle, Suchtberatungsstellen und andere niedrigschwellige Angebote

-- ehrenamtliche Hilfe und Selbsthilfe

Wichtig ist dabei, dass die Würde und Integrität der psychisch Kranken immer gewahrt wird, dass die Betroffenen in höchstmöglichem Maße in die Entscheidungen einbezogen werden und ihren Wünschen und Vorstellungen nach Möglichkeit Rechnung getragen werden muss. Die Annahme von Hilfen sollte dabei auf freiwilliger Basis erfolgen.

In den PsychK(H)Gs sind darüber hinaus auch Ausführungen zu Unterbringungen, den Behandlungen gegen den (natürlichen) Willen und von besonderen Sicherungsmaßnahmen und Zwangsmaßnahmen genau ausgeführt. Es werden die Rechte der Betroffenen gerade auch unter diesen Bedingungen dargelegt.

Zur Wahrung dieser Rechte und zur Aufsicht über die durchführenden und mit den hoheitlichen Rechten beliehenen Krankenhäusern bzw. Krankenhausabteilungen werden in den jeweiligen Bundesländern unabhängige Besuchskommissionen eingerichtet. Daneben üben je nach Landesgesetz die Auftrag gebenden Länder bzw. Kommunen die Fachaufsicht über die mit Unterbringungen beliehenen Psychiatrischen Kliniken aus.

In B, BBG, BW, HE, SA, TH werden zusätzlich auch gesetzlich Patientenfürsprecher gefordert, in SH können ein Patientenfürsprecher und /oder eine Besuchskommission eingerichtet werden. Wobei auch in B, HE, und NRW Beschwerdestellen für Psychiatrie vorgehalten werden müssen.

Fachaufsicht der mit hoheitlichen Aufgaben beliehenen Kliniken (Berlin, Schleswig-Holstein)

Mit der Privatisierung psychiatrischer Kliniken der Regelversorgung wurde auch die Umsetzung hoheitlicher Aufgaben zur Gefahrenabwehr, insbesondere freiheitsentziehender Maßnahmen, in die Hände privater Träger gegeben. Um diese dem Gewaltmonopol des Staates unterliegenden Maßnahmen hier rechtlich korrekt umsetzen zu können wurde es erforderlich, die entsprechenden Kliniken zu beleihen und die dort in diesem Zusammenhang tätigen Mitarbeiter zur Ausübung staatlicher Gewalt zu ermächtigen. Der Auftraggeber Staat (Ordnungsbehörde) trägt die Verantwortung für die gesetzeskonforme und fachgerechte Umsetzung der in seinem Namen durchgeführten Maßnahmen. Um dies zu gewährleisten, ist die Kontrolle der Umsetzung durch die Behörde erforderlich. Diese Aufgabe wird aufgrund der dort vorhandenen Fachkompetenz bei den sozialpsychiatrischen Diensten in Schleswig-Holstein angesiedelt. Geprüft werden neben der rechtlich korrekten Umsetzung von Unterbringungs- und Zwangsmaßnahmen auch die räumlichen Gegebenheiten, die quantitative und qualitative Personalausstattung und die Einhaltung fachlicher Qualitätsstandards in Behandlung und Pflege.

Tabelle: PsychK(H)G’s der Länder

Bundesland

Gesetze

Datum

Brandenburg

Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen sowie über den Vollzug gerichtlich angeordneter Unterbringung für psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen im Land Brandenburg

 (Brandenburgisches Psychisch-Kranken-Gesetz- BbgPsychKG)

05.05.2009

Berlin

Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten

(PsychKG)

17.06.2016

Bayern

Bayrisches Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz

(BayPsychKHG)

24.07.2018

Baden-Württemberg

Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten

(Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz – PsychKHG)

25.11.2014

Freie Hansestadt Bremen

Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG)

19.12.2000

Freie und Hansestadt Hamburg

Hamburgisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten

 (HmbPsychKG)

27.09.1995

Hessen

Hessisches Gesetz über Hilfen bei psychischen Krankheiten,

Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (PsychKHG)

04.05.2017

Sachsen-Anhalt

Gesetz über Hilfen für psychisch Kranke und Schutzmaßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt

(PsychKG SA)

30.01.1992

Mecklenburg-Vorpommern

Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für Menschen mit psychischen Krankheiten  

(Psychischkrankengesetz - PsychKG M-V)

14.07.2016

Niedersachsen

Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke

(NPsychKG)

16.06.1997

Nordrhein-Westfalen

Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten

(PsychKG)

17.12.1999 zuletzt geändert 2.7.2019

Rheinland-Pfalz

Landesgesetz für psychisch kranke Personen

(PsychKG)

17.11.1995

Sachsen

Sächsisches Gesetz über die Hilfen und die Unterbringung bei psychischen Krankheiten

(SächsPsychKG)

10.10.2007

Schleswig-Holstein

Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen

(Psychisch-Kranken-Gesetz - PsychKG)

14.01.2000

zuletzt geändert 2015

z.Z.in Über-

arbeitung

Saarland

Gesetz Nr. 1301 über die Unterbringung psychisch Kranker  

(Unterbringungsgesetz - UBG)

bis jetzt kein PsychKG vorhanden

11.11.1992

Thüringen

Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen

(ThürPsychKG)

05.02.2009

Das Betreuungsgesetz

1992 trat das “Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige” (Betreuungsgesetz-BtG) in Kraft und wurde in den folgenden Jahren immer wieder angepasst und schließlich 2013 novelliert. Mit dem „Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in ärztliche Zwangsmaßnahmen“ wurden umfangreiche  Änderungen im § 1906 BGB vorgenommen um die Rechte und Selbstbestimmung der Betreuten zu schützen.

Mit Beschluss des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29.01.2019 wurde aktuell die Rechtsposition der Personen die in allen Angelegenheiten betreut sind, noch einmal deutlich gestärkt indem die Verfassungswidrigkeit des vorher bestehenden Ausschlusses vom aktiven Wahlrecht für diese Betroffenengruppe festgestellt wurde und eine Wahlteilnahme auf Antrag nun möglich ist.

Die Ablösung von dem bis 1992 gültigen Rechtskonstrukt der Entmündigung, Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft für Erwachsene hat zu deutlichen Verbesserungen für gesetzlich Betreute geführt.

Rechtliche Betreuungen werden zum Wohle des Betroffenen eingerichtet, um Hilfe in Aufgabenkreisen zu leisten die krankheitsbedingt nicht mehr erledigt werden können. Dabei muss der Wille und das unmittelbare Bedürfnis der Betroffenen berücksichtigt werden, die Selbstbestimmung gewahrt und Rechtseingriffe auf das notwendige Maß beschränkt werden, , wenn dies nicht dem Wohle des Betreuten entgegensteht oder sich daraus eine erhebliche Gefahr für den Betroffenen ergibt.

Das heißt, dass beispielsweise eine in der Vermögenssorge betreute Person seine finanziellen Mittel zum persönlichen Eigenbedarf gemäß seinen Bedürfnissen, Wünschen, Vorstellungen usw. einsetzen kann. Damit kann ein Betreuter, der beispielsweise in einer renovierungsbedürftigen Wohnung mit kaputten Möbeln wohnt, trotzdem sein Geld dazu verwenden die kostspielige Briefmarkensammlung weiter zu vervollständigen. Wichtig ist , dass die Kosten für die lebensnotwendigen Bereiche (Wohnung, Nahrung…) gedeckt sind.

Voraussetzungen der rechtlichen Betreuung

Das Betreuungsgesetz als Bundesgesetz ist in den §§ 1896ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt. Die Verfahrensvorschriften sind wie aus den PsychKGs der Länder bekannt im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Buch 3 §§ 271-341 (FamFG), früher im FGG, verankert. 

Im BGB heißt es:

Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer.“  

Eine genaue Definition der anspruchsbegründenden Krankheitsbilder wird vom Gesetzgeber nicht vorgegeben, was immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen und vor allem auch im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit zu unterschiedlichen Entscheidungen führt.

Orientierend und vereinfacht nach dem ICD 10[1] ist festzustellen, dass

psychische Erkrankungen nach dem BGB vorrangig:

  • organisch psychische Störungen (F0) bzw. seelische Störungen als Folge anderer Erkrankungen: Z.n. Meningitis, Schädel-Hirn-Verletzungen, Krebsleiden, Parkinson etc. (oft Erkrankungen des Nervensystems Kapitel VI des ICD 10)

  • Suchterkrankungen (F1) mit Folgeschäden, z.B. amnestisches Syndrom oder Suchterkrankungen auf Grundlage/Komorbiditäten anderer betreuungsrelevanter Erkrankungsbilder (vgl. z.B. BayObLG, Beschluss vom 28.03.2001 - 3 Z BR 71/01, AG Neuruppin, Beschluss vom 22.06.2005 - 23 XVII 159/04 )

  • Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (F2)

  • affektive Störungen (F3)

  • neurotische Störungen, Konfliktreaktionen (F4) und Persönlichkeitsstörungen (F6) bei schwersten Ausprägungen (vergleichbar mit den SMIs), da hier im Normalfall vor allem andere Maßnahmen vorrangig in Betracht kommen

 

geistige Behinderungen nach dem BGB:

  • Angeborene oder frühzeitig erworbene Minderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit: klassisch Intelligenzminderungen (F7) oder kognitive Störungen bei z.B. Trisomie 21, auch u.U. frühkindlicher Autismus

(Anm.: In diesem Bereich gibt es fließende Übergänge zur “Lernbehinderung”, siehe entsprechend dort)

 

und seelische Behinderung nach dem BGB:

  • bleibende Zustände psychischer Erkrankungen sind, schwer ausgeprägte Demenzen, Residualzustände von schizophrenen Erkrankungen etc.

 Körperliche Behinderungen nach dem BGB sind Erkrankungen, die eine Person daran hindern die eigenen Angelegenheiten ausreichend zu besorgen (z.B. Bettlägerigkeit). Sie werden, soweit notwendig, durch die jeweils zuständigen Fachbereiche im Gesundheitsamt mit betreut. Daher werden sie in diesem Kapitel nicht weiter betrachtet.

Einen Antrag auf Bestellung eines Betreuers kann der Betroffene selbst beim zuständigen Amtsgericht/Abteilung des Betreuungsgerichts stellen oder er kann von Amts wegen gestellt werden. Die Einrichtung einer Betreuung kann dabei grundsätzlich auch von Dritten angeregt werden, was in Beratungskontexten im Sozialpsychiatrischen Dienst auch immer Berücksichtigung finden sollte.

 

Aufgabenkreise

Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist“ (BGB §1896 (2)).

Dabei ist aber auch im Betreuungsverhältnis die Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit immer zu wahren.

Typische bestellte Aufgabenkreise sind:

  •  Gesundheits(für)sorge/-angelegenheiten

  • Vermögenssorge/-angelegenheiten

  • Vertretung vor Behörden/ Ämtern/ Institutionen/ Sozialleistungsträgern/ Versicherungen/ Gerichten/ …

  • Wohn(ungs)angelegenheiten

  • Postangelegenheiten (≈Entgegennahme und Öffnen der Post), Entscheidungen über den Fernmeldeverkehr

Die Betitelung und Umfang der Aufgabenkreise können dabei je nach Richter, Amtsgericht und Region, aber vor allem auch nach Betreuungsbedarf, unterschiedlich sein. Prinzipiell kann ein Betreuer für jeden notwendigen Aufgabenkreis auch in strenger Begrenzung bestellt werden, beispielsweise zur Vertretung vor dem Jugendamt. Um Auskünfte über den Umfang eines bereits bestehenden Betreuungsverhältnisses zu erlangen, sollte immer Einsicht in den Betreuerausweis genommen werden.

Eine Betreuung hat keinen Einfluss auf die Geschäftsfähigkeit der betreuten Person, insofern sich aber erhebliche Gefahren für die Person oder sein Vermögen ergeben, kann ein Einwilligungsvorbehalt für bestimmte Aufgabenkreise, meist in der Vermögenssorge, eingerichtet werden.

Das heißt, dass Geschäfte, die unter diesem Einwilligungsvorbehalt stehen, ohne die Zustimmung des rechtlichen Betreuers nicht rechtswirksam getätigt werden können.

Betreuungsverfahren

Eine Betreuung darf nicht gegen den freien Willen einer Person eingerichtet werden und orientiert sich immer am Grundsatz der Erforderlichkeit. 

Zur Einrichtung einer rechtlichen Betreuung muss neben der persönlichen Anhörung des Betroffenen durch den Richter auch ein Sachverständigengutachten und ein Sozialbericht der Betreuungsbehörde eingeholt werden. In seltenen Fällen kann die Einholung des Sachverständigen-Gutachtens entfallen, wenn ein aussagekräftiges, ärztliches Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vorliegt.

Der Betroffene selbst kann einen Betreuervorschlag unterbreiten. Unterbleibt dies, wird der Betreuer vom Gericht nach Vorschlag durch die Betreuungsbehörde bestimmt. Ein Wechsel des Betreuungsverhältnisses ist bei entsprechenden plausiblen Gründen möglich. Eine rechtliche Betreuung kann auch von mehreren Personen ausgeübt werden wenn sich hieraus Vorteile für den Betreuten ergeben. Neben der Betreuung durch Betreuungsvereine und selbstständige Berufsbetreuer können auch vorzugsweise natürliche Personen zum Betreuer bestellt werden.

Die Dauer der Einrichtung eines neuen Betreuungsverhältnisses variiert erheblich und kann oft mehrere Monate in Anspruch nehmen.

Eine Betreuung kann auch im Eilverfahren einstweilig vom Gericht bestellt werden, wenn Gefahr im Verzuge ist. Eine vorläufige Betreuerbestellung darf höchstens für die Dauer von 6 Monaten bestimmt werden. Bis dahin muss das Regelverfahren mit Einholung eines Sachverständigengutachtens und einem Bericht der Betreuungsbehörde erfolgen. Einstweilig eingerichtete Betreuungen finden in der Arbeit des Sozialpsychiatrischen Dienstes selten Anwendung, siewerden oft bei akut notwendigen ärztlichen Eingriffen einer nicht mehr einwilligungsfähigen Person eingerichtet. Zum Beispiel bei Zustand nach Verkehrsunfall und auch nach Erstversorgung persistierender schwerer neurologischer Beeinträchtigungen und indizierter Operationsbedürftigkeit ohne vorliegende Vorsorgevollmacht.

Im psychiatrischen Kontext sollte man bei Gefahr im Verzuge auf die Dringlichkeit der Einrichtung eines Betreuungsverhältnisses hinweisen in dem die krankheitsbedingten Probleme und daraus bereits bestehender und auch prognostisch relevanter Gefahren für die betroffene Person beschrieben werden, um die Einrichtung einer Betreuung zu beschleunigen.

Der Anspruch auf eine rechtliche Betreuung muss im Sachverständigen-Gutachten für die einzelnen Aufgabenkreise und die Dauer der Betreuung (maximal 7 Jahre) begründet werden. Dabei müssen die krankheitsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen hinsichtlich der Erledigung der persönlichen Angelegenheiten dargestellt werden, und nicht nur die zugrundeliegenden Diagnosen gestellt werden. 

Beispielsweise kann eine Person mit wahnhafter Störung, die sich vor allem auf ihre Mietergemeinschaft begrenzt, von der sie sich bedroht und verfolgt fühlt, durchaus ihre finanziellen Angelegenheiten auch ohne Unterstützung eines Betreuers erledigen.

Im Rahmen eines handlungsweisenden Wahnerlebens, das z.B. dazu führt, dass die erkrankte Person sich beschwert, Ruhestörung betreibt und die vermeintlichen Täter sogar bedroht oder gefährdet, zeigen sich im Rahmen des krankheitswertigen Erlebens somit vor allem Schwierigkeiten und Probleme in der Erledigung der Wohnangelegenheiten und damit verbundener rechtlicher und behördlicher Angelegenheiten. Hier wäre ein dringender Unterstützungsbedarf und Stärkung der verfahrensrechtlichen Position durch eine rechtliche Betreuung begründet.

Besteht behinderungsbedingt keine ausreichende Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft, könnte unter Umständen die Einrichtung einer Betreuung im Bereich Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung zum Zwecke der Heilbehandlung hilfreich sein. Dies ist vor allem dann angezeigt, wenn Erkenntnisse vorliegen, dass ein drohender erheblicher gesundheitlicher Schaden für die Betroffene zu erwarten ist. Der Grund für fehlende Krankheitseinsicht kann u. a. sein, dass die erkrankte Person die Symptome ihrer psychischen Erkrankung nicht erfassen kann und daher keine subjektive Plausibilität für eine notwendige psychiatrische Behandlung entwickelt.

Insofern der Erkrankte bei fehlender Krankheits- und Behandlungseinsicht jegliche Hilfen, also auch die Einrichtung einer Betreuung, ablehnt muss geprüft werden, ob diesbezüglich noch ein freier Wille gebildet werden kann. Wenn die vorliegende Störung des Realitätsbezugs einer angemessenen Abwägung von Für und Wider entgegensteht und eine aufgehobene Kritik- und Urteilsfähigkeit bedingt, wären die Voraussetzungen der freien Willensbestimmung[2] nicht mehr gegeben. Diese Prüfung sollte aber gerade in Hinsicht auf die erheblichen Eingriffe auf die Selbstbestimmung und Grundrechte der Person sorgfältig erfolgen und auch ausführlich begründet werden.

Vorsorgevollmacht

Die Bestellung eines rechtlichen Betreuers kann vermieden werden, wenn eine Person des Vertrauens wirksam bevollmächtigt wird. Eine Bevollmächtigung als milderes Mittel ist dabei der rechtlichen Betreuung vorzuziehen. Sie wird gleichsam für die entsprechenden Aufgabenkreise bestimmt.

Zur Beratung und Hilfestellungen empfiehlt es sich auf die entsprechenden Betreuungsbehörden zu verweisen oder auf die Internetpräsenz des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.

Unterbringungen bei Eigen- und Fremdgefährdung

Eine Unterbringung ist die Verbringung einer Person gegen oder ohne Willen in eine geeignete geschlossene Einrichtung und stellt damit als Zwangsmaßnahme einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen dar. Hieraus bedingt sich verständlicherweise, dass Unterbringungen möglichst vermieden werden sollen. Vorrangige Hilfen und Alternativen sind daher auszuschöpfen.

Unterbringungsvorschriften sind in verschiedenen Gesetzen verankert:

  • öffentliches Recht (PsychK(H)G) – bei krankheitsbedingter Eigengefährdung und vorrangig auch zum Schutz der Allgemeinheit bei krankheitsbedingter Fremdgefährdung

  • Zivilrecht (Betreuungsrecht, BGB) – zum Wohl des Betroffenen und damit ausschließlich bei krankheitsbedingter Eigengefährdung

  • Strafrecht (StGB) bei Fremdgefährdung

  • Besserung und Sicherung von schuldunfähigen (§§20, 63) oder vermindert schuldfähigen (§§21, 63) und suchtkranken (§64) Straftätern im Maßregelvollzug (MRV)

  • schuldfähige Straftäter im Justizvollzug (JVA)

In hoch akuten Situationen mit erheblicher Selbst- und/oder Fremdgefährdung bei nicht einwilligungsfähigem Patienten kann auch auf der Grundlage des “rechtfertigenden Notstands” (§ 34 StGB) oder des “mutmaßlichen Willens” (BGHSt 40, 257) gehandelt werden. (siehe Fallbeispiele)

Abbildung 8: Juristische Bezeichnungen, Unterbringung bei Eigen- und Fremdgefährdung.png
Abbildung 8: Juristische Bezeichnungen, Unterbringung bei Eigen- und Fremdgefährdung.png

Juristische Begrifflichkeiten bei Eigen- und Fremdgefährdung

Der unbestimmte Begriff der Gefahr stellt im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne eine Sachlage dar, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit zu einem Schaden, beziehungsweise einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führt. Dabei spricht man entweder von konkreten Gefahren oder abstrakten Gefahren.

Im Fall von konkreten Gefahren werden Einzelfälle betrachtet, bei denen bei ungehindertem Ablauf in überschaubarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit einem Schadenseintritt gerechnet wird.

Dies sind die typischen Sachlagen mit denen man im Sozialpsychiatrischen Dienst häufig konfrontiert ist. Man kann hier zum Beispiel an eine schizophrene Person mit Polydipsie denken, die allein lebt und ohne Aufsicht täglich über 10 Liter Wasser trinkt, sodass in absehbarer Zeit ohne weiteres Eingreifen der Tod eintreten würde. Hier handelt es sich um einen Einzelsachverhalt, der hinsichtlich des Ortes, der gegebenen Umstände und einer absehbaren Zeit nach den bekannten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen zum Schadenseintritt unter den gegebenen Umständen führen wird.

Von abstrakten Gefahren spricht man dagegen, wenn bei bestimmten und häufiger vorkommenden Verhaltensweisen nach allgemeiner Erfahrung die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für die sogenannten Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit zu befürchten ist.

Hier handelt es sich demnach eher um Gefahrenlagen, mit denen man im Infektionsschutz konfrontiert ist, wie die Verbreitung von Masern, wenn keine Herdenimmunität besteht.

Die grundgesetzlich verankerten bedeutenden Rechtsgüter Einzelner wie Leben, Gesundheit, Freiheit der Person aber auch ihr Vermögen und ihre Ehre, sowie die Staats- und Rechtsordnung, umfassen gemeinsam den Begriff der öffentlichen Sicherheit.

Der unbestimmte Rechtsbegriff der öffentlichen Ordnung verweist auf die herrschende Moral, Werte und Normen des sozialen und ethischen Zusammenlebens. Hier kann ein Einschreiten der Behörden notwendig werden, wenn ein geordnetes Leben in der Gemeinschaft bei anstößigem oder unanständigem öffentlichen Verhalten Einzelner gefährdet ist. 

Der Begriff der Gefahr enthält demnach die Merkmale des “Schadens”, aber auch der “Eintrittswahrscheinlichkeit”. Die Prognose ist also ein wichtiges Kriterium in Hinsicht auf Unterbringungssituationen. Die Prognose basiert dabei auf Erfahrungsgrundsätzen.

„Von einer gegenwärtigen Gefahr […] ist dann auszugehen, wenn ein schadenstiftendes Ereignis unmittelbar bevorsteht oder sein Eintritt zwar unvorhersehbar, wegen besonderer Umstände jedoch jederzeit zu erwarten ist.“

heißt es in den jeweiligen PsychK(H)Gs. Beim Begriff der gegenwärtigen Gefahr wird demzufolge eine höhere Anforderung an das Zeitkriterium gestellt.

Gegenwärtig im Sinne der Gesetzeslage meint:

  • unmittelbar bevorstehend

  • bereits begonnen

  • jederzeit erwartbar

Eine dringende Gefahr besteht, wenn ein Schadenseintritt für wichtige Rechtsgüter besteht oder für wenig bedeutsamere aber ein Schaden großen Ausmaßes zu erwarten ist, hierbei wird der Zeitdimension wenig Beachtung gewidmet. Es handelt sich also um einen Gefahrenbegriff im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne, der zum Beispiel im Rahmen von Wohnungsdurchsuchungen angewendet werden kann, aber in der Arbeit des SpDi eine untergeordnete Rolle spielt. Anwendungen wären zum Beispiel eine zwangsweise herbeigeführte Begutachtung nach richterlichem Beschluss im Rahmen des BGB, wenn Tatsachen bekannt sind, die auf eine Eigengefährdung deuten, aber eine Begutachtung nicht vollzogen werden kann, da die betroffene Person die Wohnungstür nicht öffnet.

Bei Gefahr im Verzuge muss zur Verhinderung des drohenden Schadens sofort eingeschritten werden. Andernfalls wäre der Erfolg der notwendigen Maßnahme gefährdet, d.h. die eigentliche Abfolge notwendiger Maßnahmen, bzw. die normale Verfahrensweise von Behörden und Gerichten, ist nicht durchführbar. Sonst können die Schäden bedeutsamer Rechtsgüter, vor allem großen Ausmaßes, nicht verhindert werden. Dies sind vor allem Sachlagen die auf Grundlage des § 34 StGB rechtfertigender Notstand  betrachtet werden, wie z.B. medizinische Notfallbehandlungen, mit denen man in der Arbeit des SpDi auch konfrontiert wird.

Generell sind jedoch durch die PsychK(H)Gs, das Betreuungsgesetz und die jeweiligen Polizei- und Ordnungsgesetze der Länder hinreichende Möglichkeiten einstweiliger Maßnahmen durch die Behörden gewährleistet.

Die Erheblichkeit von Gefahren wird im Einzelfall beurteilt. Hierbei geht es um die Schwere, das Ausmaß der (möglichen) Beeinträchtigung bedeutsamer Rechtsgüter wie Leib, Leben, Gesundheit und Freiheit einer Person. Eine Prüfung erfolgt dabei auf dem Boden der grundgesetzlich verankerten Werteordnung.   

„Je größer und folgenschwerer der mögliche eintretende Schaden ist, desto geringer sind die Anforderungen, die an die Prüfung einer Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen sind.“ Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 45, 51 vom 26. Februar 1974)

Das heißt, dass der mögliche Schadenseintritt umso weiter entfernt liegen kann je bedeutender das gefährdete Rechtsgut und auch das Ausmaß der Schädigung ist.

Eine Gefahr im Rechtssinne ist auch gegeben bei begründetem Gefahrenverdacht, dann also, wenn eine anzunehmende Gefahr durch Tatsachen erhärtet ist.

Die jeweiligen Ordnungsbehörden sind für die Gefahrenabwehr zuständig. Die Polizei als Ordnungsbehörde hat einen subsidiären Auftrag in der Gefahrenabwehr, das heißt:

Sie ist zuständig, wenn Maßnahmen durch die jeweiligen zuständigen Ordnungsbehörden nicht gewährleistet oder nicht möglich sind.

Die Zuständigkeiten ergeben sich aus den jeweiligen Rechtsgrundlagen des Bundes und der Länder. In der Arbeit des öffentlichen Gesundheitswesens

In Berlin ist bspw. das Bezirksamt/Gesundheitsamt auch die zuständige Ordnungsbehörde für die Gefahrenabwehr im öffentlich-rechtlichen Raum. Das ist in den Gesundheitsdienstgesetzen und PsychK(H)Gs der Länder geregelt. Damit ergibt sich aufgrund der föderalen Strukturen eine unterschiedliche Zuständigkeit und somit auch Unterschiede in notwendigen Antragstellungen nach dem PsychK(H)G.

Für das Handeln des SpDi muss bei einer krankheitsbedingte Gefahren immer eine Krankheit im Rechtssinne vorliegen, d.h.:

  • eine psychische Krankheit, vergleichbare psychische Störung, Suchtkrankheit, geistige Behinderung und

  • eine aus dieser Krankheit heraus resultierende Gefahr vorliegen (Kausalität).

Das heißt, dass sich aus den Symptomen heraus die Gefahr für bedeutende Rechtsgüter ergibt, wie z. B. bei einem an einer fortgeschrittenen Demenz erkrankten Menschen, der im Winter nur leicht bekleidet ohne Beachtung der Verkehrsregeln auf die Straße läuft. Bevor die Demenz (Krankheit) vorlag, kleidete sich die Person witterungsbedingt sicher angemessen und beachtete die Verkehrsregeln. Das heißt, dass eine Gefährdung für sich und andere jetzt aus den Symptomen der schweren Demenz resultiert.

 Im Rahmen der Arbeit in der Sozialpsychiatrie spricht man damit von der krankheitsbedingten Fremdgefährdung und der Eigengefährdung.

Die Fremdgefährdung im engeren Sinne ist:

  • körperliche Unversehrtheit, Leib und Leben sind bedroht (Grundgesetz)

  • keine Fremdgefährdung:

    -- Belästigung

    -- Beleidigung

    -- querulatorische Verhaltensweisen

    -- lästige Verhaltensweisen

    -- Sachbeschädigung

  Eigenfährdung ist:

  • Suizidalität

  • Eigengefährdung muss nicht zielgerichtet sein:

-- akut selbstgefährdende Fehlhandlungen (z.B. Selbstschädigung aus psychotischer Motivation, Verwirrtheit, Selbstgefährdung verwirrter Personen im öffentlichen Verkehrsraum…)

-- Hilflosigkeit mit Gefahr des Verhungerns, Erfrierens etc.

-- krankheitsbedingte Verweigerung von Nahrung und lebensnotwendigen Medikamenten

-- krankheitsbedingte Verkennung akut lebensbedrohlicher Erkrankungen/Nichtbehandlung körperlicher Leiden

Im Betreuungsrecht bei gesundheitlichem Schaden aber auch:

  • Chronifizierung mit Persönlichkeitsabbau bei unbehandelter Erkrankung (Schizophrenie, Manie)

  • z.T. krankheitsbedingte schwerste Verwahrlosung in menschenunwürdiger Umgebung

Zum gesundheitlichen Schaden gibt es keine einheitliche Definition, sodass medizinische und juristische Auffassungen oft divergieren. Als praktische Darstellung hat sich die Einordnung des gesundheitlichen Schadens auf den 4 Ebenen bewiesen. (Steinert et al. 2016):

  • strukturelle Organschäden

  • subjektives Leiden

  • Störung der sozialen Teilhabe

  • Funktionsstörung (Störung der Einsichts- und Selbstbestimmungsfähigkeit)

Im Rahmen der Arbeit im öffentlichen Gesundheitswesen ist dabei gerade in Unterbringungs-Angelegenheiten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit immer zu beachten. Maßnahmen müssen immer:

  • geeignet

  • erforderlich

  • angemessen

sein.

Das heißt: Einschränkungen der Grundrechte des Einzelnen sind nur so weit verhältnismäßig, wie es zum Schutze der bedeutenden Rechtsgüter (öffentliche Sicherheit und Ordnung) notwendig, zielführend und angemessen erscheint. Öffentlich-rechtliche Interessen und Rechtsgüter müssen gegeneinander abgewogen werden und das mildeste Mittel muss gewählt werden.

Der Freiheitsanspruch des Einzelnen ist immer zu beachten und der Eingriff in dieses Grundrecht muss demnach verhältnismäßig sein. Die Maßnahme einer zwangsweisen Unterbringung muss also dazu führen, dass die Gefahr beseitigt werden kann, also ist sie geeignet und erforderlich. Die Maßnahme sollte auf das geringstmögliche Maß beschränkt sein, darf nur angewendet werden, wenn keine weniger eingreifende oder weniger nachteilige Maßnahme zur Verfügung steht. Der Eingriff ist unerlässlich, da sonst ein Schaden eintritt. Er sollte auch zeitlich in einem angemessenen Rahmen stattfinden.

Amtsrichterliches Unterbringungsverfahren 

Das gerichtliche Verfahren der Unterbringungen der PsychK(H)Gs und dem Betreuungsgesetz ist im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG dort §§ 312 ff) festgelegt und erfolgt daher bundeseinheitlich. Die inhaltlichen Entscheidungen unterliegen der richterlichen Unabhängigkeit.

Unterbringungs-Angelegenheiten werden am zuständigen Amtsgericht verhandelt. Die Betroffenen sind unabhängig von der Geschäftsfähigkeit in Unterbringungssachen verfahrensfähig. Neben der persönlichen Anhörung der Betroffenen (§ 319 FamFG) wird im Rahmen der förmlichen Beweisaufnahme ein Sachverständigengutachten (§321 FamFG), beziehungsweise ein ärztliches Zeugnis, bei Unterbringungen nach den PsychK(H)Gs, eingeholt. in diesem muss die Notwendigkeit der Maßnahme begründet werden. Ärztliche Zeugnisse oder Sachverständigen-Gutachten müssen dabei jeweils mindestens von einem in Psychiatrie erfahrenen Arzt ausgestellt sein (Anm.: es handelt sich hierbei um einen ungenauen Begriff. Oft wird für Sachverständigen-Gutachten im Rahmen des Betreuungsrechtes eine mindestens 2-jährige Erfahrung im Bereich der Psychiatrie vorausgesetzt, in Unterbringungssachen nach dem PsychKG ist ein halbes Jahr ausreichend, wie es für den FA ÖGW auch gefordert ist.)

Dabei sind einstweilige Anordnungen bei dringenden Gefahrenlagen oder auch Gefahr im Verzuge im FamFG §§331 -333 geregelt. Einstweilige Unterbringungen erfolgen durch den Amtsrichter, mit zusätzlichem ärztlichem Zeugnis über die krankheitsbedingte Gefährdung. Die Unterbringung erfolgt für maximal 6 Wochen und kann auf weitere 6 Wochen verlängert werden. In einem nächsten Schritt wird ein Sachverständigengutachten eingeholt.

Unterbringung nach dem Betreuungsrecht

Wenn

„die Gefahr besteht, dass [..][ein Betreuter oder Vollmachtgeber] sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, [und] die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann“

ist zum Wohl des Betroffenen eine Unterbringung nach dem § 1906 BGB erforderlich.

Die Unterbringung nach dem BGB kann dabei je nach Art der vorliegenden Eigengefährdung und der daraus resultierenden notwendigen Hilfe in einem Krankenhaus, aber auch in einem geschlossenen Heim, für längstens 2 Jahre angeordnet werden.

Dabei muss der Betreuer die Aufgabenkreise “Aufenthaltsbestimmung” und “Gesundheitssorge” innehaben und einen gesonderten Antrag beim zuständigen Amtsgericht stellen. Nach Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens bedarf es der Genehmigung des Gerichts, da es sich um Eingriffe in das Grundrecht der betroffenen Person wie die körperliche Unversehrtheit handelt.

Dabei bestehen, wie im Fließschema dargestellt, grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Unterbringung nach dem BGB.

Abbildung 9: Vorgehen bei Selbstgefährdung
Abbildung 9: Vorgehen bei Selbstgefährdung

Im normalen Verfahren stellt ein Betreuer oder Vollmachtnehmer einen Antrag auf Unterbringung des Betroffenen (bei Eigengefährdung) beim zuständigen Amtsgericht. Im Hauptsacheverfahren erfolgt dann eine gerichtliche Entscheidung über die beantragte Zwangsunterbringung nach Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens.

Ist Gefahr im Verzug oder ein Betreuter befindet sich bereits im Krankenhaus, möchte dieses aber trotz vorliegender Eigengefährdung verlassen, kann der Betreuer den Aufenthalt bestimmen. Es erfolgt dann mit begleitender ärztlicher Stellungnahme, in der die bestehende krankheitsbedingte Eigengefährdung dargestellt wird, ein Antrag auf Unterbringung. Es erfolgt dann nach richterlicher Anordnung eine einstweilige gerichtliche Unterbringung für längstens 6 Wochen danach wird das eigentliche Hauptsacheverfahren eröffnet. Die Unterbringung wird dabei von der jeweiligen Betreuungsstelle, u.U. mit Amtshilfe, organisiert und durchgeführt.

Eine Unterbringung nach dem BGB ist bei Eigengefährdung einer betroffenen bereits betreuten Person einer Unterbringung nach dem PsychK(H)G vorzuziehen und muss als bundesgesetzliche Regelung auch Vorrang finden (“Bundesrecht vor Landesrecht als milderes Mittel”).

Unterbringung nach dem PsychK(H)G

Die Zwangsunterbringungen bei krankheitsbedingter Eigen- und Fremdgefährdung sind in den PsychK(H)Gs der Länder ausgeführt.

Dort heißt es‚

“wer infolge einer psychischen Störung sein Leben oder seine Gesundheit erheblich gefährdet oder bedeutende Rechtsgüter anderer erheblich gefährdet, oder in erheblichem Maße die öffentliche Sicherheit gefährdet, muss , wenn die Gefahr nicht anders abzuwenden ist, untergebracht werden.”

Dabei erfolgen Unterbringungen immer unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit als letzte Möglichkeit zur Gefahrenabwehr (siehe: Fließschema Eigen- und Fremdgefährdung).

Abbildung 10: Fließschema Eigen- und Fremdgefährdung
Abbildung 10: Fließschema Eigen- und Fremdgefährdung

Die Ausführung der Unterbringung geschieht zumeist über Anträge des zuständigen Ordnungsamts, Gesundheitsamts oder auch durch die Polizei. In manchen Ländern sind auch hoheitlich beliehene Krankenhäuser oder der Rettungsdienst/Notarzt antragsberechtigt.

Je nach Länderausführungen ist dem Antrag ein ärztliches Zeugnis beizufügen. In HE darf die Exploration nicht länger als 14 Tage zurückliegen, in MV, RP eine Woche, in SA, SL, TH nicht länger als 3 Werktage und SA, NI, NRW, SH nicht länger als 1 Tag.

Wenn dringende Gründe bestehen, dass die Voraussetzungen einer Unterbringung bestehen, kann diese auch vorläufig vorgenommen werden. Das zuständige Gericht muss anschließend unverzüglich benachrichtigt werden und der Beschluss des Amtsgerichtes muss bis zum Ablauf des Folgetages vorliegen. Ausnahmen bilden Baden-Württemberg und Thüringen, dort kann der SpDi eine vorläufige Unterbringung, längstens für 24 Stunden anordnen in BBG muss die richterliche Anhörung binnen 24 Stunden erfolgt sein. Erfahrungsgemäß werden Unterbringungen nach den PsychK(H)Gs nicht im Regelverfahren, sondern fast ausschließlich durch vorläufige Unterbringungen eingeleitet.

Beispiel: Unterbringung nach dem PsychK(H)G und Betreuungsrecht

Als Beispiel kann man hier an eine 35-jährige schizophrene Frau denken, die gelernte Erzieherin ist und 5 Jahre in dem Beruf tätig war. Sie lebte zusammen mit ihrem damaligen Lebensgefährten in einer 3-Raumwohnung und war als zuverlässige, freundliche Kollegin sehr geschätzt. Sie war im letzten Jahr ihrer beruflichen Tätigkeit wegen Depressionen und Angststörungen krankgeschrieben (Anm.: wahrscheinlich Prodromalstadium einer schizophrenen Erkrankung).

Die 35-jährige Frau wurde bei Erstdiagnose einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie einmalig drei Wochen stationär psychiatrisch behandelt. Es erfolgte damals eine vorläufige behördliche Unterbringung mit nachfolgendem Beschluss des Amtsgerichts wegen Fremdgefährdung nach dem PsychK(H)G. Hintergrund war eine krankheitsbedingte Gefährdung ihres damaligen Lebensgefährten.

Bei der Frau bestand ein systematisierter Wahn, sie verkannte ihren Freund als feindlichen Alien, der sie vergiften wollte (->Symptome einer psychischen Krankheit bestehen, damit ist das Eingangsmerkmal einer Person mit psychischer Krankheit erfüllt). Der Lebensgefährte hatte sich schon mehrmals hilfesuchend an den SpDi gewendet, Hausbesuche fanden statt, eine psychiatrische Behandlungsnotwendigkeit wurde erkannt, wobei die Betroffene den Empfehlungen nicht nachkam, und mehrmals weitere Gespräche mit den Mitarbeitern des SpDi ablehnte. Bereits zum damaligen Zeitpunkt zeigte sie verbale Aggressionen gegen den Lebensgefährten und spuckte ihn an, beschimpfte Anwohner als menschenfressende Aliens (->noch keine Gefahr für bedeutende Rechtsgüter anderer, aufsuchende Arbeit erfolgt, Beratung und Hilfsangebote siehe PsychK(H)G wurden vermittelt aber die Betroffene kam den Maßnahmen freiwillig nicht nach).

Am Tag der Einweisung rief der Lebensgefährte aus einer akuten Notlage heraus an. Er hatte sich im Schlafzimmer verbarrikadiert, nachdem sie ihn tätlich angegriffen hatte. Sie hatte in der Küche unvermittelt mit einem Schneidebrett mehrmals nach ihm geschlagen (er gab an eine kleine Kopfplatzwunde zu haben, später bestätigt) und habe dann nach einem Messer gegriffen und versucht ihn abzustechen und immer wieder gebrüllt “ich bringe dich um” wobei der Partner sich in das Schlafzimmer flüchten konnte. Den Notruf hatte er schon getätigt.

Die Polizei und Feuerwehr konnten die Wohnung demnach bei weiterer Gefahr im Verzug ohne Richtervorbehalt betreten. Die erkrankte Person konnte ohne Gegenwehr überwältigt werden und war bei ihrem Eintreffen kooperativ und ruhig, stimmte einer Krankenhausbehandlung zu, wenn sie dort vor Aliens sicher sei.

Die Voraussetzungen einer zwangsweisen Unterbringung nach dem PsychK(H)G sind demnach gegeben. Es besteht eine Krankheit aufgrund derer bedeutende Rechtsgüter anderer (Leben des Freundes) gefährdet sind. Die Betroffene ist zwar ruhig und kooperativ und stimmt einer freiwilligen Aufnahme zu. Die Freiwilligkeit ist dabei aber nicht tragfähig. Im Rahmen wahnhafter Verkennung bei unbehandelter Schizophrenie besteht eine gegenwärtige erhebliche Fremdgefahr fort. Es besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Frau neben ihrem Lebensgefährten (bereits erfolgte Körperverletzung) auch andere Menschen verkennt und ihnen dann Schaden zufügen wird. Eine maßgebliche Freiwilligkeit besteht nicht, da die Freiwilligkeit nur unter der Voraussetzung der Abwesenheit der krankheitsbedingten Symptome angenommen wird. Alternativen ergeben sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht. Freiwillige Maßnahmen im Vorfeld wurden nicht angenommen und im Rahmen der akuten Psychopathologie steht die Gefahrenabwehr, die nur unter geschlossenen Bedingungen gewährleistet werden kann, im Vordergrund. Demnach erfolgt eine vorläufige behördliche Unterbringung der Betroffenen im zuständigen psychiatrischen Krankenhaus und ein Antrag auf Unterbringung der Betroffenen beim zuständigen Amtsgericht für die Dauer von vorerst 3 Wochen. Dies erscheint bei vorliegendem Krankheitsbild mit Erstbehandlung vorerst ausreichend. Es erfolgte nach Anhörung durch den Richter am Folgetag der Beschluss der Unterbringung für 14 Tage. Im Nachgang wurde eine Verlängerung bei weiterer anzunehmender Fremdgefährdung bei noch persistierenden Symptomen für weitere 9 Tage beschlossen, wobei die Erzieherin noch weitere 4 Tage freiwillig stationär psychiatrisch behandelt wurde.

Im Anschluss erfolgte für 1,5 Jahre eine ambulante Weiterbehandlung. Nach langsamer Reduktion des Antipsychotikums brach die Frau bei erneuter Exazerbation die Weiterbehandlung ab und nahm keine anderen alternativen Hilfen an. Voraussetzungen zwangsweiser Maßnahmen bestanden hier nicht.

Circa 4 Jahre später meldete die Hausverwaltung eine schwere Wohnungsverwahrlosung bei der Betroffenen, wobei eine Kündigung des Mietverhältnisses bereits erfolgt war. Trotz Beschwerden der Nachbarn und Aufforderungen der Hausverwaltung die Wohnung zu säubern, um Brandgefahren und Belästigungen der Mitmieter zu beseitigen, zeigte sich keine Änderungsmotivation der Betroffenen.

Ein Zugang zur Wohnung wurde durch die Betroffene nicht erlaubt. Sie wollte auch nicht in Kontakt mit dem SpDi treten. Voraussetzungen einer zwangsweisen Vorführung zur Untersuchung nach dem PsychK(H)G ergaben sich nicht, ebenso wenig kam ein Betreten der Wohnung im Rahmen des PsychK(H)G, bzw. Ordnungsrechts ohne dringende Gefahr oder Gefahr im Verzug in Frage.

Es erfolgte ein behördlicher Antrag auf Errichtung einer rechtlichen Betreuung für die Betroffene, mit dem Hintergrund einer bekannten nicht behandelten Schizophrenie. Wobei die ehemalige Erzieherin und jetzt Langzeitarbeitslose mindestens ihre Angelegenheiten in den Wohnungsangelegenheiten nicht erledigte.

Eine Begutachtung der Betroffenen fand, nach richterlichem Beschluss einer zwangsweisen Wohnungsöffnung zur Begutachtung, in der Häuslichkeit statt, nachdem eine Exploration nicht realisiert werden konnte und bereits das Verfahren einer Zwangsräumung eröffnet wurde. Im Rahmen der Ermittlungen hatte sich bereits gezeigt, dass die Betroffene keine sozialen Kontakte mehr pflegte. Ihre Mutter hatte sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, sie brachte ihr jeden zweiten Tag Lebensmittel, die sie an die Wohnungstür hängte. Die Mutter stand in Kontakt mit dem Jobcenter - nur für diesen Bereich lag eine Vollmacht vor - da ihre Tochter keine Anträge mehr gestellt hatte und kurzfristige Mietschulden aufgetreten waren. Damit ergaben sich Tatsachen für den Richter, die einer zwangsweisen Vorführung zur Untersuchung im BGB Genüge taten.

Nach Begutachtung wurde eine Betreuung  in sämtlichen Aufgabenkreisen nach dem §1896ff BGB eingerichtet. Der rechtliche Betreuer stellte im Nachgang einen Antrag auf Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1906 BGB.

Eine Unterbringung wurde von Seiten des Sachverständigen im Rahmen einer chronifizierten unbehandelten Schizophrenie für notwendig beschrieben, , aber vom Betreuungsgericht abgelehnt, sodass der Betreuer in Widerspruch trat. Es zeigte sich, dass die krankheitsbedingte Eigengefährdung nicht ausführlich dargelegt wurde nach einem Zweitgutachten, aus dem sich die krankheitsbedingte Eigengefährdung ergab, fand eine Unterbringung zur Heilbehandlung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung statt.

Der zweite Gutachter zeigte auf, dass bei der betroffenen Frau ein krankheitsbedingter tiefgreifender Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit bestand. Im Rahmen der unbehandelten chronisch verlaufenden Schizophrenie zeigte sich ein Bruch gegenüber allen früheren Präferenzen, Einstellungen und Normen der Person. Diese war vor Krankheitsbeginn eine liebevolle, saubere, ordentliche und zuverlässige und beruflich tätige Person.

Bei unbehandelter Schizophrenie zeigte sich ein erheblicher gesundheitlicher Schaden bei einem Persönlichkeitsabbau

  • mit kognitiven Einschränkungen

  • subjektivem Leiden bei akutem Wahn, in dem sie sich als Opfer und Versuchsperson von Aliens wähnte

  • einer Berufsunfähigkeit

  • sozialem Rückzug mit krankheitsbedingter Funktionsstörung

Im Rahmen der schweren psychischen Erkrankung bestand ein tiefgreifender Verlust der Einsichts- und Selbstbestimmungsfähigkeit, der sich auch in der schweren Wohnungsverwahrlosung ausdrückte. Die Frau sah keine Notwendigkeit mehr aufzuräumen, war aber auch krankheitsbedingt nicht mehr dazu fähig und verließ die Wohnung nicht mehr. Eine Unterbringung zur Heilbehandlung wurde empfohlen, da trotz jahrelanger Nichtbehandlung eine Besserung der Psychopathologie und des damit einhergehenden gesundheitlichen Schadens, bei damals gutem Ansprechen auf eine multimodale und vor allem auch medikamentöse psychosoziale-psychiatrische Therapie, hinreichend wahrscheinlich war und die Maßnahme mit Eingriff in die Grundrechte damit verhältnismäßig war.

Versorgungslandschaft

Selbsthilfe und soziale Unterstützung

Der Mensch ist als soziales Wesen auf die Gemeinschaft der Mitmenschen angewiesen und kann sich den vielfältigen Konflikten, die in diesem Zusammenhang entstehen, nicht entziehen. Solche Konflikte können unter besonderen Belastungen im Verlauf der Lebensgeschichte und der aktuellen sozialen Lage in psychosoziale Krisen münden. Eine erfolgreiche Bewältigung einer Krise ist auch davon abhängig, wie ausgeprägt die Fähigkeiten zur Selbsthilfe sind und inwieweit soziale Unterstützung aus dem persönlichen Umfeld geleistet wird. Es ist wichtig, diese Möglichkeiten der Selbst- und Laienhilfe immer wieder neu zu entdecken, zu aktivieren und zu erweitern.

Unter den Quellen sozialer Unterstützung für die gesunde Bewältigung von psychosozialen Konflikten und Krisen ist die vertraute Zweierbeziehung mit einer bedeutsamen Bezugsperson (Dyade) von besonderer Bedeutung. Sie wird ergänzt durch Familienangehörige, Freunde, Nachbarn und Bekannte, die das primäre Netzwerk sozialer Unterstützung bilden. Es zeichnet sich aus durch eine mehr oder minder große Vielfalt persönlicher Beziehungen. Diese werden mal enger, mal unverbindlicher gestaltet. Ein funktionierendes primäres Netzwerk wirkt in einem gewissen Grade ausgleichend, wenn eine vertraute Zweisamkeit entweder fehlt oder im Konfliktfall selbst Gegenstand der krisenhaften Entwicklung ist. Das sekundäre oder institutionelle Netzwerk umfasst die Organisationen der Gesellschaft, in denen die betreffende Person mitwirkt. Dabei kann es sich um den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz handeln, um Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden, um Kultureinrichtungen oder Kirchengemeinden. Je geringer diese Netzwerke ausgeprägt sind und je schneller sie reißen, desto eher wird der Einsatz von Fachleuten aus dem Netzwerk professioneller Hilfen zur Überwindung einer Krise benötigt und desto intensiver müssen diese sein (Abbildung: Das Netzwerk sozialer Unterstützung und professioneller Hilfen).

Abbildung 11: Das Netzwerk sozialer Unterstützung und professioneller Hilfen
Abbildung 11: Das Netzwerk sozialer Unterstützung und professioneller Hilfen

In den letzten Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine vielfältige Selbsthilfe-Szene mit zahlreichen Gruppen für verschiedenste psychosoziale und gesundheitliche Problemlagen entwickelt. Den besten Überblick haben auf Bundesebene die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) sowie die kommunalen Informations- und Beratungsstellen (KIBIS) bzw. Kontakt- und Informationsstellen (KISS) im Selbsthilfebereich. Im Einzelfall sind diese auch bei der Vermittlung einer geeigneten Selbsthilfegruppe behilflich. Außerdem existieren zu vielen Krankheitsbildern – auch zu Süchten, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen – Selbsthilfe-Vereine zur Bündelung der Aktivitäten und Interessenvertretung auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Die Vereine gründen oder unterstützen Selbsthilfegruppen vor Ort, schulen und beraten Mitglieder in Leitungs- bzw. Moderationsfunktionen, engagieren sich in der Öffentlichkeit und in Gremien für die Selbsthilfe-Freundlichkeit des professionellen Hilfesystems. Sie beruhen zumeist auf ehrenamtlichen Aktivitäten, sie werden nur zum Teil und dann in der Regel unzulänglich von der öffentlichen Hand bzw. den Krankenkassen finanziell gefördert.

Für die Selbsthilfe in der Psychiatrie haben noch zwei spezielle Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten eine besondere Bedeutung: Ausgehend von der Universität Hamburg haben sich vielerorts sogenannte trialogische Psychose-Seminare gebildet, in denen Betroffene, Angehörige und Fachleute außerhalb eines therapeutischen Kontextes ihre Erfahrungen austauschen. Und eine ursprünglich vom EU-Sozialfonds geförderte und speziell für Psychiatrie-Erfahrene entwickelte einjährige Ausbildung Experienced Involvement (EX-IN) vermittelt Kompetenzen für Genesungsbegleitung und Peer-to-Peer-Beratung. Eine Verknüpfung von Selbsthilfe und Versorgungssystem stellt die Ergänzende Unabhängige Teilhabe-Beratung (EUTB) nach § 32 SGB IX dar, die mit dem BTHG eingeführt wurde und Peer-Beratung anbietet.

Überblick zum Versorgungssystem für psychisch erkrankte Menschen

Deutschland verfügt über ein vergleichsweise hoch entwickeltes und umfangreiches Versorgungssystem für psychisch erkrankte Menschen, das durch Differenzierung, jedoch auch Fragmentierung und regionale Ungleichmäßigkeit gekennzeichnet ist. Differenziert ist es aufgrund starker Spezialisierung der Hilfsangebote, fragmentiert mangels Koordination der zahlreichen Kostenträger und Leistungserbringer, regional ungleichmäßig wegen des weitgehenden Verzichts auf psychiatriepolitische Steuerung. Trotz des erheblichen Einsatzes an Ressourcen werden viele Menschen mit zum Teil schwerwiegenden psychischen Erkrankungen, darunter häufig Suchterkrankungen, von den Angeboten dieses Versorgungssystems nicht erreicht. Das gilt insbesondere für Menschen, die von Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen sind oder in anderen Institutionen betreut werden, z.B. in Justizvollzugsanstalten, somatischen Kliniken, Alten- und Pflegeheimen.

Neben der Selbsthilfe und sozialen Unterstützung im Lebensumfeld der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen sind im Vorfeld der psychiatrischen Versorgung allgemeine medizinische und soziale Hilfsangebote häufig erste Anlaufstellen.

Dazu zählen:

  • die Hausarztpraxen der kassenärztlichen Versorgung

  • verschiedenste psychosoziale Beratungsangebote durch kommunale Sozialdienste, Familien- und Erziehungs-Beratungsstellen (FEB)

  • allgemeine Sozial- und Lebensberatungsstellen

  • spezialisierte Beratungsstellen, z.B. für Schuldner und Menschen mit Suchtproblemen.

Die Hausarztmedizin und der kommunale Sozialdienst (wo er noch existiert) werden notfalls sofort und ggf. auch aufsuchend tätig. Die anderen Beratungsangebote beschränken sich meist auf eine „Komm-Struktur” und führen oft Wartelisten, was ihre Nutzbarkeit in akuten psychosozialen Krisen und bei unzureichendem Hilfesuchverhalten der Betroffenen einschränkt.

Das Versorgungssystem lässt sich für einen ersten Überblick gliedern in ambulante, teil- und vollstationäre Hilfsangebote in den Bereichen medizinische Behandlung und Rehabilitation sowie Leistungen zur Teilhabe und zur Pflege. Für die medizinische Behandlung (SGB V) in Krankenhäusern gibt es Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Erwachsenenpsychiatrie. Diese wiederum haben häufig spezielle Abteilungen für Gerontopsychiatrie, Suchterkrankungen und Psychosomatische Medizin. Für die medizinische Rehabilitation (SGB VI) existieren in Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern, ungewöhnlich viele Betten in Kliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Suchterkrankungen. Die Kliniken des Maßregelvollzugs für psychisch kranke Straftäter werden von den Justizministerien der Bundesländer finanziert. Die Leistungen zur Teilhabe umfassen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie solche zur sozialen Teilhabe, also zu Wohnen, Selbstversorgung, Kontaktfindung und Tagesgestaltung. Außerdem gibt es noch spezielle Leistungen zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien sowie spezielle Leistungen der Suchthilfe (Gühne and Riedel-Heller 2019). Die Einrichtungen der Leistungserbringer können sich in öffentlicher, privater oder freigemeinnütziger Trägerschaft befinden, die Zuständigkeiten der Leistungsträger regelt das Sozialgesetzbuch (SGB).

Abbildung 12: Netzwerk professioneller Hilfen für psychisch erkrankte Menschen
Abbildung 12: Netzwerk professioneller Hilfen für psychisch erkrankte Menschen

Ein besonders Problem ist die ambulante psychosoziale Krisenintervention und psychiatrische Notfallhilfe, für die rund um die Uhr ein interdisziplinäres Team mit der Fähigkeit zu sofortiger aufsuchender und nachgehender Hilfe bereitstehen muss. Dies ist allerdings bisher nur in wenigen Kommunen realisiert. Allerdings lässt sich nur mit einem solch niedrigschwelligen Angebot, das für ein umschriebenes Gebiet zuständig und mit allen dort aktiven Systempartnern gut vernetzt ist, der Einsatz von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie auf ein Minimum reduzieren. So ein Kriseninterventionsdienst (KID) betrifft medizinische Behandlung und komplementäre Versorgung, er müsste gemeinsam von den vor Ort tätigen Leistungserbringern organisiert und den verschiedenen Leistungsträgern finanziert werden. Im Rahmen ihrer Verantwortung für die Daseinsfürsorge psychisch beeinträchtigter Bürgerinnen und Bürger sind dabei auch die kommunalen Gebietskörperschaften mit ihrem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Pflicht.

Medizinische Behandlung und Rehabilitation

Leistungsträger der medizinischen Behandlung (SGB V) ist die Krankenversicherung, die neben der Rentenversicherung (SGB VI) auch für die medizinische Rehabilitation zuständig ist. Die ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der Kassenärztlichen Versorgung (KV) führen entsprechend qualifizierte Fachleute meist in einer freiberuflichen Einzel- oder Gruppenpraxis durch. Daneben haben sich aufgrund entsprechender gesetzlicher Regelungen inzwischen viele sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) etabliert, in denen Angehörige von mindestens zwei Fachgebieten im Angestelltenverhältnis tätig sind. Träger eines MVZ können die dort tätigen Fachleute sein, aber auch die KV, eine Klinik oder eine Kommune. Zur Unterstützung der Behandlung können unter bestimmten Bedingungen auch Leistungen der Behandlungspflege und der Soziotherapie eingesetzt werden. Zwei Probleme schränken die Wirksamkeit all dieser Hilfsangebote im Rahmen des KV-Systems ein und sind ein Grund für die verbreitete Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Psychiatrie: Sie sind erstens regional ungleichmäßig verteilt und vor allem in großen Städten anzutreffen, und sie können zweitens meist nur über eine Terminvergabe mit langer Wartezeit in Anspruch genommen werden.

Für spezialfachärztlich ambulante Behandlungen gibt es einige Sonderformen: Ausgewiesene Fachleute, wie z.B. die ärztliche Leitung einer psychiatrischen Klinik, können von der KV eine zeitlich befristete persönliche Ermächtigung zur ambulanten Behandlung ansonsten unterversorgter Patientengruppen erhalten. Die meisten psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Kliniken betreiben multidisziplinär besetzte Institutsambulanzen für Patientinnen und Patienten, die vom KV-Regelsystem nicht erreicht bzw. nicht ausreichend behandelt werden können. Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) und Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) können bei entsprechender Spezialisierung unter Umständen auch psychisch erkrankte Minderjährige, bzw. Erwachsene mit Behinderungen ambulant versorgen. Viele Fachstellen für Sucht und Suchtprävention bieten im Rahmen eines erweiterten Leistungsspektrums auch ambulante Rehabilitation im Auftrag der RV an.

Eine psychiatrische oder psychotherapeutisch-psychosomatische Klinik kann als Abteilung am Allgemeinkrankenhaus oder als Sonderkrankenhaus betrieben werden. Die meisten psychiatrischen Kliniken haben einen Versorgungsauftrag des Landes für die Unterbringung psychisch erkrankter Menschen nach den entsprechenden Landesgesetzen. Die organisatorische Gliederung einer Klinik ist sehr unterschiedlich, abhängig von der Bettenzahl, der Größe des Einzugsgebietes und den Vorlieben ihrer Geschäftsführung, bzw. ihrer ärztlichen Leitung. Kleinere Abteilungen am Allgemeinkrankenhaus verfolgen für ihre Stationen eher das Prinzip der „Durchmischung”, große Sonderkrankenhäuser gehen oft den Weg der „Spezialisierung” mit besonderen Stationen für die verschiedensten Krankheitsbilder. Diese Wahl betrifft auch Tageskliniken und Institutsambulanzen, die bei größeren Einzugsgebieten zwecks besserer Erreichbarkeit auch außerhalb des Klinikgeländes dezentral lokalisiert sein sollten. Mit der Einführung der sogenannten stationsäquivalenten Behandlung (StäB) können psychiatrische Kliniken seit 2018 unter bestimmten Voraussetzungen stationär behandlungsbedürftige Patientinnen und Patienten auch aufsuchend im gewohnten Lebensumfeld behandeln (Home Treatment).

Eine medizinische Rehabilitation für psychisch kranke Menschen ist z.B. durch die RPK Richtlinien vorgesehen. Die entsprechenden Einrichtungen zur kombinierten medizinischen und beruflichen Rehabilitation wurden jedoch nur an relativ wenigen Standorten eingerichtet. Inzwischen wird das Konzept der “virtuellen RPK” favorisiert, d.h. die Funktionen sollen, ohne eine neue eigenständige Organisation zu schaffen, in bestehenden Angeboten durchlaufen werden. Auch dies erfolgt nur sehr zögerlich. An einigen Orten gibt es die schon vor Erlass dieser Richtlinie entstandenen Übergangseinrichtungen für psychisch kranke Menschen (sogenannte Übergangsheime), wo vollstationäre medizinische Rehabilitation für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, in der Regel im Auftrag der DRV oder ggf. des Eingliederungs-Hilfeträgers, durchgeführt wird. Angebote der wohnortnahen ganztägig ambulanten medizinischen Rehabilitation gibt es nur in einigen Bundesländern, obwohl es im Hinblick auf die Vorgaben der UN-BRK zu Habilitations- und Rehabilitationsdiensten die am besten geeignete Maßnahme wäre.

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Die Teilhabe am Arbeitsleben hat in unserer Leistungsgesellschaft eine hohe Bedeutung für die subjektive Sinngebung, den sozialen Status und die gesellschaftliche Integration. Das gilt auch für psychisch erkrankte Menschen. Entsprechend der Forderungen der UN-BRK nach Inklusion aller Menschen mit Behinderungen müssen die rehabilitativen Bemühungen eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anzielen. Wenn sie in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit vorübergehend oder längerfristig eingeschränkt sind, wollen und können sie doch in den meisten Fällen mit entsprechender Förderung gesellschaftlich nützliche Arbeiten verrichten. Doch gerade in diesem Bereich fehlen für sie trotz großer Vielfalt an Instrumenten weithin geeignete Angebote, die ein auf individuelle Belastbarkeit und inhaltliche Interessen ausgerichtetes wohnortnahes Training ermöglichen. Die diesbezüglichen Ausgangslagen psychisch erkrankter Menschen sind ebenso vielfältig wie die im Einzelfall eventuell geeigneten Instrumente, ihnen eine Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen (Abbildung 10).

Abbildung 13: Vielfalt der Ausgangslagen psychisch erkrankter Menschen
Abbildung 13: Vielfalt der Ausgangslagen psychisch erkrankter Menschen

Schwerpunkt der Beschäftigungsangebote für Menschen mit schwereren psychischen Beeinträchtigungen ist immer noch der „besondere” Arbeitsmarkt, vor allem in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Deutlich geringer und über Deutschland sehr ungleich verteilt sind die Trainingsplätze in Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation psychisch Kranker (RPK). Offiziell dienen RPK-Einrichtungen und WfbM der Vorbereitung auf den ersten (allgemeinen) Arbeitsmarkt (first train, then place). In vielen Untersuchungen hat sich jedoch die bisher wenig geförderte Unterstützte Beschäftigung (supported employment) auf einem Arbeitsplatz des ersten Arbeitsmarktes als wirksamer erwiesen (first place, then train). Die Arbeit dort sollte mit der betroffenen Person nach ihren Interessen und ihrer Belastungsfähigkeit ausgewählt und bei Bedarf auch längerfristig durch eine Arbeitsassistenz (Jobcoach) begleitet werden.

Als erwerbsfähig auf dem ersten Arbeitsmarkt gilt, wer dort mindestens drei Stunden pro Tag belastbar ist. Wer erwerbstätig ist, kann bei Bedarf eine Arbeitsassistenz durch den Integrationsfachdienst (IFD) für Schwerbehinderte im Arbeitsleben in Anspruch nehmen. Eine andere Möglichkeit nach SGB IX (Teil 3) ist die Beschäftigung in einer sogenannten Inklusionsfirma, die eine Förderung erhält, wenn sie mindestens 25% schwerbehinderte Personen beschäftigt. Für Arbeitssuchende auf dem ersten Arbeitsmarkt offeriert die Agentur für Arbeit (SGB III), bzw. das Jobcenter (SGB II) verschiedene Fördermaßnahmen zur Aus- und Weiterbildung, Arbeitsaufnahme und Überwindung von Vermittlungshemmnissen. Spezielle Programme gibt es für Menschen unter 25 Jahren und Langzeitarbeitslose, für Menschen mit Behinderungen und zur Beschäftigung von geflüchteten Menschen. Auch Möglichkeiten für einen Zuverdienst gibt es auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Unterhalb des Belastungsniveaus für den ersten Arbeitsmarkt stellt sich die Frage, ob die betroffene Person in der Lage ist, mindestens vier Stunden pro Tag eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen. Ist das der Fall, sind nach dem BTHG (SGB IX, Teil 2) Rehabilitationsleistungen in einer WfbM möglich. Mancherorts gibt es die WfbM als virtuelle Variante ohne eigene Produktionsstätte mit betreuten Arbeitsplätzen in Firmen des ersten Arbeitsmarktes. Eine weitere, von Menschen mit einer seelischen Behinderung jedoch recht selten genutzte Möglichkeit, ist das Budget für Arbeit. Damit kann die leistungsberechtigte Person mit dem Geld für ihren WfbM-Arbeitsplatz zu einem anderen Leistungsanbieter oder einer Firma des ersten Arbeitsmarktes wechseln, wo sie dann beschäftigt und betreut wird. Liegt die wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung unter vier Stunden pro Tag, ist immer noch ein Zuverdienst möglich – auch auf dem besonderen Arbeitsmarkt, z.B. auch in einer Tagesstätte für Menschen mit einer seelischen Behinderung.

Besondere Maßnahmen sind erforderlich, wenn die Fragen zur Erwerbsfähigkeit, bzw. zur wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleistung noch nicht eindeutig zu beantworten sind und es erst einmal um Abklärung, Stabilisierung, Belastungserprobung und Arbeitstraining geht. Das niedrigste Einstiegsniveau bietet die Arbeitstherapie auf Heilmittelverordnung in einer ambulanten Ergotherapie-Praxis oder in speziellen Arbeitstherapie-Gruppen während einer ambulanten, teil- und vollstationären Behandlung in einer Klinik (SGB V). Eine nächste Stufe auf diesem Weg können RPK-Einrichtungen sein, die ambulante und/oder stationäre medizinische (SGB V) und berufliche (SGB VI) Rehabilitation für einen begrenzten Zeitraum integriert anbieten. Mit dem seitens der Leistungsträger geforderten immer höheren Anteil erfolgreicher Vermittlungen auf dem ersten Arbeitsmarkt erhöhen sich für die betroffenen Menschen allerdings die Barrieren vor der Inanspruchnahme einer RPK-Maßnahme. Weitere Spezialeinrichtungen zur beruflichen Rehabilitation mit noch anspruchsvolleren Zugangsvoraussetzungen sind Berufliche Trainingszentren (BTZ), Berufsförderungswerke (BFW) und Berufsbildungswerke (BBW).

Leistungen zur sozialen Teilhabe und zur Pflege

Die gesetzlichen Grundlagen für Leistungen zur sozialen Teilhabe wurden in Westdeutschland durch das 1962 verabschiedete Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Form von steuerfinanzierten Eingliederungshilfen (EGH) geschaffen. Das BSHG wurde 2005 vom SGB XII abgelöst Mit dem 2017 in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetz (BTHG) sind ab 2020 alle Regelungen zur EGH, die nun auch eine Form der Rehabilitation ist, Bestandteil des SGB IX (Teil 2). Mit dem BTHG reagiert der Gesetzgeber auf die Forderungen der UN-BRK und übernimmt deren Behindertenbegriff: Die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen wird nicht nur durch individuelle körperliche, seelische oder geistige Beeinträchtigungen eingeschränkt, sondern auch durch einstellungsbedingte und/ oder umweltbedingte Barrieren. Menschen mit Behinderungen sind durch Maßnahmen zur Rehabilitation in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung und Teilhabe bezogen auf alle Aspekte des Lebens zu erlangen. Die Umsetzung des BTHG erfolgt zwischen 2017 und 2023 in vier Reformstufen und beinhaltet zahlreiche Veränderungen, deren Folgen für die Erbringung von EGH-Leistungen und ihre Finanzierung vielfach noch nicht absehbar sind.

Bei der EGH für Menschen mit seelischen Behinderungen (einschließlich Suchterkrankungen) gibt es im Hinblick auf Art und Umfang der Angebote sowie Planung und Finanzierung der Leistungen zwischen Kommunen und Bundesländern teilweise große Unterschiede. Bei den Hilfen zum Wohnen wird grundsätzlich unterschieden zwischen stationärer Betreuung im Heim (jetzt „besondere Wohnform” genannt), ambulant betreutem Wohnen und als Sonderform Wohnen in Gastfamilien (Abbildung 11). Die Anzahl der Leistungsberechtigten pro 1.000 Einwohner/innen. im EGH-Bereich Wohnen lag bei den 23 Trägern der überörtlichen Sozialhilfe 2017, bezogen auf alle drei Behinderungsarten (geistig, seelisch, körperlich), zwischen 3,1 und 7,7 (Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) 2017). Menschen mit seelischen Behinderungen werden vergleichsweise häufiger ambulant betreut, der Ambulantisierungsgrad schwankt hier je nach Einzugsgebiet des Sozialhilfeträgers zwischen 47% und 91%; bei den anderen Behinderungsarten schwanken die Werte zwischen 11% und 49%.

Abbildung 14: Kennzeichen betreuter Wohnformen für psychisch kranke Menschen (modifiziert nach DGPPN (2013) S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen)
Abbildung 14: Kennzeichen betreuter Wohnformen für psychisch kranke Menschen (modifiziert nach DGPPN (2013) S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen)

Das ambulant betreute Wohnen (abW, BEWO, BEW) als EGH-Leistung, auch „mobil unterstütztes Wohnen” genannt, zielt auf die Stabilisierung des psychosozialen Zustands und Förderung der Teilhabe am Leben der Gemeinschaft.

Die Leistungsinhalte beschränken sich nicht nur auf Wohnen und Selbstversorgung, sondern umfassen auch die Bereiche

  • soziale Beziehungsgestaltung und kulturelle Teilhabe

  • Selbstbestimmung und Krankheitsverarbeitung

  • Gesundheitsförderung

  • Inanspruchnahme erforderlicher medizinischer Behandlung

  • Mobilität

  • administrative Hilfen und Fallkoordination

Hier wird es zukünftig bei der Gesamt-, bzw. Teilhabeplanung verstärkt darum gehen, die Notwendigkeit fachlich qualifizierter Leistungen der ambulanten Eingliederungshilfe gegenüber einer Begleitung durch höchstens angelernte Assistenzkräfte zu rechtfertigen.

Von einer abW-Maßnahme abzugrenzen sind Leistungen zur Pflege, sei es als Hilfe zur Pflege nach SGB XI oder als Psychiatrische Häusliche Krankenpflege (PHKP) nach SGB V, früher auch „Ambulante Psychiatrische Pflege (APP)” genannt. Aufgrund einer Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs werden psychische Beeinträchtigungen inzwischen bei der Prüfung des Anspruchs auf Pflegeleistungen ähnlich ernst genommen wie körperliche Beeinträchtigungen. PHKP-Leistungen zielen auf die Vermeidung, bzw. Verkürzung eines Krankenhausaufenthaltes und/oder die Unterstützung einer ärztlichen Therapie, sie dauern in der Regel wenige Wochen oder Monate. Dabei geht es vorrangig um die Erarbeitung von Pflegeakzeptanz, die Durchführung von Maßnahmen zur Krisenbewältigung und um kompensatorische Hilfen. Ambulante oder stationäre Hilfen zur Pflege nach der Pflegeversicherung (SGB XI) sind angebracht, wenn Art und Umfang der damit angezielten psychischen Beeinträchtigungen das EGH-Ziel einer Verbesserung sozialer Teilhabe unerreichbar machen. PHKP- und abW-Leistungen können im Einzelfall aufeinander folgen oder sich ergänzen. Sie sind selbstverständlich auch mit weiteren Leistungen kombinierbar, z.B. mit Pflegeleistungen nach SGB XI, einer psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen Behandlung oder einer ambulanten Soziotherapie nach SGB V.

Eine wesentliche vom BTHG geschaffene Veränderung ist die Aufhebung der bisherigen Trennung zwischen ambulanten, teil- und vollstationären Eingliederungshilfen. Bei stationärer Betreuung in einem Wohnheim, das nun eine „besondere Wohnform” ist, werden nun nur noch die Fachleistungen über die EGH finanziert. Die hilfsbedürftige Person schließt mit dem Heimträger einen separaten Vertrag über die Kosten der Unterkunft, die dann nach Bedürftigkeitsprüfung ggf. von der Sozialhilfe übernommen werden. Derzeit ist noch völlig unklar, wie man mit den zweifellos in vielen Fällen nicht unerheblichen Kosten umgehen will, die weder als Fachleistung noch als Zimmermiete gebucht werden können. Dazu zählen u.a. zusätzliche Kosten des Leistungserbringers für persönliche Hygiene und Ernährung der betreuten Person, für Zimmerreinigung und Milieugestaltung, auch die häufiger anfallenden Reparaturen und Instandsetzungsarbeiten nach Sachbeschädigungen.

Die gemeindepsychiatrischen Angebote zur Tagesgestaltung, Kontaktfindung und kulturellen Teilhabe sind unterschiedlich organisiert und richten sich meistens an Menschen mit chronisch und schwer verlaufenden psychischen Erkrankungen. Die EGH finanziert neben den ambulanten und stationären Hilfen zum Wohnen auch teilstationäre Hilfen, nicht nur in einer WfbM, sondern auch in Tagesförderstätten. Das ist unabhängig von der Art der Behinderung dann der Fall, wenn bei der betroffenen Person ein außerordentlicher Pflegebedarf besteht und ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht erbracht werden kann. Für Menschen mit einer seelischen Behinderung gibt es neben der heiminternen Tagesstruktur bei stationärer Wohnbetreuung auch für eigenständig lebende hilfsbedürftige Personen spezielle Tagesstätten, die der Tagesstrukturierung und Kontaktfindung dienen, ggf. auch Möglichkeiten zum Zuverdienst bieten. Daneben gibt es eine Vielzahl verschiedener ambulanter psychosozialer Kontakt- und Beratungsstellen (PSKB), die niedrigschwellig, spontan und in der Regel auch anonym aufgesucht werden können. Sie stützen sich oft auf ehrenamtliches Engagement und erhalten zusätzlich eine finanzielle Förderung durch freiwillige Leistungen der Kommune oder des Bundeslandes. PSKB werden von gemeinnützigen Vereinen betrieben, sie sind überwiegend an eine Tagesstätte oder den Sozialpsychiatrischen Dienst angegliedert.

Kommunales Qualitätsmanagement in der Gemeindepsychiatrie

Psychiatrische Epidemiologie und regionale Psychiatrie-Berichterstattung

Psychische Erkrankungen haben eine hohe sozialmedizinische Relevanz. Aktuelle Zahlen zur Verbreitung psychischer Erkrankungen in Deutschland zeigen bei Einschluss aller Schweregrade, dass pro Jahr zumindest zeitweilig 22,0% der männlichen und 33,3% der weiblichen Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren unter einer voll ausgeprägten psychischen Störung leiden (Gühne et al. 2015b).

Die Gesamtprävalenz für diese Altersgruppe liegt bei 28%,

häufige Diagnosen sind

  • Angststörungen (15,3%)

  • depressive Störungen (7,7%)

  • Störungen durch Alkohol- und Medikamentenkonsum (5,7%)

  • Zwangsstörungen (3,6%)

  • somatoformen Störungen (3,5%).

Bevölkerungsbezogen vergleichsweise selten sind posttraumatische Belastungsstörungen (2,3%), psychotische (2,8%) und bipolare (1,5%) Störungen sowie Essstörungen (0,9%).

Fast die Hälfte aller psychischen Erkrankungen beginnt bereits in der Pubertät. Rund 22% der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren sind von psychischen Störungen und Verhaltensproblemen betroffen, 6% sind behandlungsbedürftig psychisch krank und erfüllen die Diagnosekriterien (KiGGS-Basiserhebung 2003-2006). In der Altenbevölkerung dominieren neben depressiven Störungen die Demenzerkrankungen, deren Prävalenzraten mit zunehmendem Alter exponentiell ansteigen; jeder zweite Pflegeheimbewohner leidet an einer Demenz (Riedel-Heller, Luppa, and Angermeyer 2004).

Eine besondere Rolle für die Versorgungsplanung spielen Menschen mit schweren chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen (Severe mental illness; SMI), die etwa 1-2% der Gesamtbevölkerung ausmachen (Gühne et al. 2015a). Sie weisen in verschiedenen Lebens- und Funktionsbereichen deutliche Einschränkungen auf und benötigen infolge ihres komplexen Hilfebedarfs intensive psychiatrisch-psychotherapeutische und psychosoziale Hilfen. Die Häufigkeit dieser Problemlagen nimmt mit der Siedlungsdichte der Kommune und der Arbeitslosigkeit der in ihr wohnenden Bevölkerung zu. Von SMI betroffenen Menschen weisen eine deutlich häufigere somatische Komorbidität auf. Die Sterblichkeitsrate für psychotische Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, bipolare und schwere unipolare Depressionen ist ebenfalls erhöht, der Lebenszeitverlust beträgt je nach Alter, Geschlecht und Erkrankung 2,6 bis 12,3 Jahren (Schneider et al. 2019).

Die Gesundheitsberichterstattung stellt einen Teilbereich der Öffentlichen Gesundheit (public health) dar und ist in den jeweiligen Gesundheitsdienstgesetzen der Länder geregelt. Die regelmäßige Erhebung und Auswertung von Daten zum regionalen Angebot von Hilfen für psychisch Kranke und ihrem Bedarf liefern wertvolle Erkenntnisse für die Koordination und Planung der Versorgung der Bevölkerung; der Sozialpsychiatrische Dienst spielt hierbei eine wichtige Rolle (siehe Kernaufgabe 4). Vulnerable, besonders gefährdete Gruppen mit höherer Krankheitslast können durch kleinräumige Analysen besser identifiziert werden, sodass Prävention und Gesundheitsförderung gezielt geplant werden können. Daneben werden im Rahmen ordnungsbehördlicher und hoheitlicher Funktionen Sozialpsychiatrischer Dienste ebenfalls relevante Daten erhoben und den oberen, bzw. mittleren Gesundheitsbehörden zur Verfügung gestellt; Regelungen hierzu finden sich in den jeweiligen PsychKG der Länder.

Planung und Qualitätsentwicklung der Versorgung

Jede Planung ist an Zielen ausgerichtet und beinhaltet Maßnahmen zur Zielerreichung. Grundlegendes Ziel der Psychiatrieplanung ist eine individuell bedarfsgerechte, ethisch-fachlichen Standards entsprechende Hilfeleistung überall da, wo sie benötigt wird (Elgeti 2019). Dazu muss der sogenannte Zirkelprozess der Qualitätsentwicklung am Laufen gehalten werden. Eine konzeptionell fundierte Planung von Maßnahmen (policy adjustment) setzt eine kritische Situationsanalyse (assessment) voraus und bleibt wertlos, wenn sie nicht mit Hilfe von Zielvereinbarungen zur Umsetzung (administration) gebracht wird. Nur eine aussagefähige Dokumentation und Berichterstattung über den tatsächlichen Verlauf der geplanten Maßnahmen ermöglicht eine Ergebnismessung (evaluation), die dann im Rahmen eines Soll-Ist-Vergleichs zu bewerten ist und in eine neue Situationsanalyse mündet. Dieser PDCA-Zirkelprozess (Plan-Do-Check-Act) hat viele Varianten und lässt sich für die individuelle, institutionelle, regionale und politische Planungsebene konkretisieren (Abbildung 12: Qualitätsentwicklung: Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen).

Abbildung 15: Qualitätsentwicklung: Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen
Abbildung 15: Qualitätsentwicklung: Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen

Für die regionale Steuerung der Versorgung müssen die Gebietskörperschaften Verantwortung übernehmen, ggf. in interkommunaler Zusammenarbeit benachbarter Kommunen, wenn eine allein dafür zu klein ist. Das Land muss ihnen die hierzu notwendigen Kompetenzen verschaffen und einen landeseinheitlichen Rahmen vorgeben. Kommunale Psychiatrieplanung ist genauso wie andere Fachplanungen auf eine übergreifende Sozialplanung zu beziehen, wenn die psychiatrische Versorgung nicht in einem stationären oder ambulanten Ghetto, sondern als Teil einer inklusiven sozialen Infrastruktur funktionieren soll (Elgeti 2015).

Eine recht verstandene kommunale Psychiatrie baut sich kein abgeschlossenes eigenes Versorgungssystem, sondern bringt ihre spezifische ethisch-fachliche Expertise in den verschiedenen Handlungsfeldern kommunaler Daseinsfürsorge mit ein. Die dabei vorrangigen Handlungsfelder lassen sich z.B. so gruppieren:

  • Lebensphasen mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf:  Kinder und ihre Eltern stärken, Jugendliche und junge Erwachsene bei der Verselbständigung unterstützen, Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter sichern;

  • Kernbereiche gesellschaftlichen Lebens: Teilhabe durch Arbeit und Beschäftigung ermöglichen, bedarfsgerechtes und bezahlbares Wohnen fördern;

  • Grundformen sozialer Ungleichheit: Inklusion von Menschen mit Behinderung fördern, Menschen mit Migrationserfahrung integrieren, Armutsfolgen mildern.

Eine integrierte Fach- und übergreifende Sozialplanung der Kommune unterstützt die Koordination und Steuerung solcher Handlungsfelder im Rahmen eines sinnvoll abgestuften Hilfesystems (stepped care). Es sollte eine klare Abgrenzung geben zwischen der Selbst- und Laienhilfe der Bürgergesellschaft, den Anlaufstellen der „Generalisten“ (Hausarztmedizin und psychosoziale Beratungsstellen, ambulante Pflege und kommunale Sozialarbeit) und den Angeboten der psychiatrischen „Spezialisten“. Dabei geht es nicht nur um die Entwicklung und regelmäßige Fortschreibung von Konzepten und Plänen. Genauso wichtig sind ein handlungs- und wirkungsorientiertes Berichtswesen zur Qualitätssicherung von Hilfsangeboten sowie eine Vernetzung der Akteure und deren Beteiligung an den Planungsprozessen. Die Netzwerkgremien sind mitverantwortlich sowohl für den trialogisch zu gestaltenden Diskurs, als auch für eine praktikable und aussagekräftige regionale Psychiatrie-Berichterstattung.

Wesentlich für den Erfolg kommunaler Psychiatrieplanung ist die Verknüpfung der Ebenen individueller, institutioneller und regionaler Planung: Aus den kumulierten Erfahrungen bei der Planung und Durchführung von Einzelfallhilfen (case management) lassen sich wertvolle Erkenntnisse für die Versorgungsplanung in der Region (care-management) gewinnen. Dabei geht es einerseits um die Identifizierung von guten Beispielen (best practice) und Lücken im Hilfesystem (unmet needs), andererseits aber auch um datengestützte Vergleiche verschiedener Hilfsangebote innerhalb einer Angebotsform und zwischen einzelnen Teilregionen (benchmarking). Für alle, die den Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention auf Inklusion ernst nehmen, ist Transparenz und Partizipation dabei oberstes Gebot. Deshalb gehört es zu einer guten Planung in der Psychiatrie, die beteiligten Akteure – einschließlich der Selbsthilfe-Organisationen – konsequent und in allen Phasen zu beteiligen, bei der Situationsanalyse, Konzeptentwicklung und Planung, bei der Umsetzung geplanter Maßnahmen und der Ergebnisprüfung.

Beschwerdemanagement / Qualitätsmanagement

Bislang steht eine bundesweite Evaluation des Tuns in der Sozialpsychiatrie aus, allerdings gibt es auf Basis der Leitlinien der psychiatrischen Fachgesellschaften, allgemeine Grundlagen, auf die sich die handelnden Personen verständigen. Auf Landesebene sind in einzelnen Gesetzen auch Evaluationen der Leistungen der SpDi festgelegt - mit dem Ziel, auf Basis einer Bestandserhebung die Weiterentwicklung in Bezug auf z.B. Zwangsmaßnahmen voranzutreiben, jeweils auf einen Sozialraum bezogen. Auf Amtsebene sollten eine Standardisierung des Formularwesens und die Handlungs- und Beratungspfade selbstverständlich sein und regelmäßig auditiert werden.

Allerdings müssen wir uns im psychiatrischen Handeln immer der kritischen Betrachtung der Angehörigen, Betroffenen, der politischen und allgemeinen Öffentlichkeit stellen. Als einziges medizinisches Gebiet, das auch stark in die persönliche Freiheit der Bürger eingreift und gegen den Willen der Menschen agieren kann, um medizinische Ziele zu erreichen, ist kritische Reflexion im Dialog mit der Öffentlichkeit notwendig. Strukturell können unabhängige Beschwerdestellen Psychiatrie wirksam sein, wie sie schon in den meisten Bundesländern vorgehalten werden. Ein Gremium aus Professionellen, Betroffenen und Angehörigen befasst sich institutionsungebunden mit persönlich, auch anonym formulierten Beschwerden gegen psychiatrisches Handeln. Die Beschwerdestellen können als neutrale Partner vermitteln und neben den allgemein wirksamen Patientenfürsprechern spezifischer tätig sein.