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Die amts- bzw. sozialärztlich begutachtende Person wird gegenüber der auftraggebenden Stelle als Sachverständige/r tätig.
Eine/r „Sachverständige/r“ ist eine Person, die etwas von einer speziellen „Sache“ versteht – d.h. besonders geeignet ist, anderen, weniger sachkundigen Verfahrensbeteiligten Hintergründe zu einem (hier: medizinischen) Sachverhalt zu vermitteln und auf Grundlage von Kenntnissen und Erfahrungen bei Bedarf auch eine Bewertung aus fachlicher Sicht vorzunehmen.
Persönliche Voraussetzungen
Bei einer ärztlichen begutachtenden Person (Gutachter/in) werden verschiedene Grundkompetenzen vorausgesetzt:
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ärztliche Grundkenntnisse
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je nach Fragestellung spezialisierte Fachkompetenz
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Kenntnisse im sozialrechtlichen (o.a.) Kontext der Begutachtungsthematik
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Fähigkeit zu logischem, abstrahierendem und schlussfolgerndem Denken
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sehr gute mündliche und schriftliche Kommunikationsfähigkeiten
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Distanz, Neutralität und Unabhängigkeit
Kritisches Rollenverständnis
Die letztgenannte Erwartung an die Funktion der begutachtenden Person erfordert, sich über die Rolle bzw. Positionierung in den divergierenden Interessenslagen bewusst zu werden.
Die Person hat grundsätzlich unparteiisch zu sein, d.h. sie soll und darf weder die Interessen des zu Begutachtenden (cave: ärztlicher Rollenkonflikt!) noch die Interessen des Beauftragenden (cave: dienstl. Interessenkonflikt?) einseitig beachten oder gar berücksichtigen.
Dies führt allerdings häufig zu einem typischen Rollenkonflikt. Primär ist die Ärztin/ der Arzt aus der Berufswahl und dem Selbstverständnis eigentlich als “Helfer/in und Heiler/in” sozialisiert. Das übliche kurative ärztliche Vertrauensverhältnis orientiert sich dabei gezielt am persönlichen Wohl der Patienten. Die Ärztin/der Arzt, die/der dieser Zielsetzung folgt, erfüllt somit auch die an sie/ihn gerichteten Erwartungen der zu begutachtenden Person.
Demgegenüber muss die Ärztin/der Arzt in der speziellen Funktion als Gutachter/in den Patienten eher distanziert als „Fall“ bzw. „Objekt“ betrachten - dies allerdings unabhängig von einem selbstverständlich positiv zugewandten Umgang. Das heißt die begutachtende Person muss sich bewusst von der einseitigen Orientierung am Wohl und Interesse der Patienten lösen. Dies bedeutet allerdings zugleich, auch die unbewussten Erwartungen der zu begutachtenden Patienten möglicherweise nicht oder nur unvollständig bedienen zu können - obwohl diese/r die Ärztin/den Arzt gern weiterhin als „Helfer/in“ vereinnahmen möchte.
Für das Verhältnis der beiden Seiten bedeutet dies, dass sich hier nicht mehr “ärztlich tätige und zu behandelnde Person” im besonderen Vertrauensverhältnis, sondern “Begutachtende und zu begutachtende Person” in gebotener Distanz gegenüberstehen - für beide Seiten ggfs. ungewohnt und Anlass für mögliche Irritationen.
Andererseits befindet sich nicht nur die ärztlich begutachtende, sondern auch die zu begutachtende Person in einem Rollenkonflikt.
Im typischen kurativ-medizinischen Krankheitsfall ist davon auszugehen, dass die zu behandelnde Person ihre Gesundheit gern rasch und uneingeschränkt wiedererlangen möchte. Sie wird somit die ärztliche Beratung und Hilfe zur Gesundung und Gesunderhaltung aktiv annehmen und umsetzen - d.h. die erkrankte Person “will” gesunden.
Im Rahmen eines sozialmedizinischen Antragsverfahrens verändert sich jedoch die Zielsetzung, d.h. die zu behandelnde Person möchte letztlich durch ihren Antrag einen sachlichen oder finanziellen Anspruch als sogenannten sekundären Krankheitsgewinn erzielen. Dies bedeutet allerdings, dass die zu behandelnde Person ihren Krankheitszustand in den Vordergrund rücken muss und eher kein Interesse an einer Stabilisierung zeigen wird, um ihren Anspruch nicht zugleich zu gefährden oder zu verlieren - d.h. die zu behandelnde Person “darf nicht” gesunden.
Auch diesen Aspekt muss die/der Gutachter/in kennen und berücksichtigen, um eine mögliche Aggravation nicht zu übersehen und eine objektive Begutachtungsbasis zu bewahren.
Gutachterliche Fachkompetenz
Vielfach wird die Frage aufgeworfen, welche spezifische Fachkompetenz die sozialmedizinisch begutachtende Person aus eigener klinischer Qualifikation aufweisen muss. Die Frage führt in gerichtlichen Verfahren mitunter zu irritierenden anwaltlichen Beanstandungen.
Hierzu muss verdeutlicht werden, dass es Aufgabe der sozialärztlich begutachtenden Person ist, der auftraggebenden Institution einen medizinischen Sachverhalt verständlich zu machen und entscheidungsrelevante Aspekte herauszuarbeiten.
Bei vielen sozialmedizinischen Fragestellungen sind in der Regel komplexe Multimorbiditäten zu berücksichtigen, so dass es eher auf eine Gesamtbewertung im Sinne einer „ganzheitlichen“ Synthese ankommt.
Dabei bauen sozialmedizinische Verfahren typischerweise darauf auf, dass die zu begutachtende Person sich bereits im Vorfeld wegen ihrer Erkrankungen bei, ggf. sogar mehreren, jeweils einschlägig qualifizierten, kurativmedizinisch orientierten Fachärzten/innen in laufender Behandlung befindet. Deren diagnostische Erkenntnisse, welche zugleich auch die Basis für vielfältige therapeutische Ansätze darstellen, bieten zugleich das Grundgerüst für den sekundären sozialrechtlichen Anspruch.
Es ist deshalb gerade nicht Aufgabe einer sozialmedizinisch begutachtenden Person, eine bessere Diagnostik und Differentialdiagnostik bzw. Therapiekonzeption zu leisten als die/der behandelnde Haus- bzw. Fachärztin/arzt.
Für die meisten sozialmedizinischen Verfahren muss daher die begutachtende Person nicht zwingend einschlägig als Fachärztin oer Facharzt für eines der zu berücksichtigenden Gesundheitsprobleme qualifiziert sein – vielmehr kommt es auf eine sorgfältige Anamnese, eine umfassende Beiziehung und Plausibilitätsprüfung relevanter Fremdbefunde sowie eine kompetente Gesamtschau und summarisch-integrative Bewertung an.
Diese Erkenntnisse sind - über den kurativ-medizinischen Ansatz hinaus - in einen sozialrechtlichen Kontext zu stellen, unter Heranziehung evtl. vorgegebener Kriterien zu gewichten und der entscheidungsbefugten Stelle sachkundig aufbereitet zu vermitteln.
Diese Herangehensweise ist in den verschiedenen sozialrechtlichen Verfahren weitgehend analog zu sehen - mit Ausnahme von gezielt an der konkreten Fachthematik orientierten Spezialgutachten - z.B. zu Unfallzusammenhängen und Unfallfolgen. Diese erfordern im Vergleich einen erheblich gezielteren Bezug zur konkreten Behandlungssituation und einen dementsprechend einschlägigen fachspezialisierten Erfahrungshorizont.
Verpflichtung zur Gutachtenerstellung
Grundsätzlich ergibt sich die Verpflichtung zur Erstellung eines amtsärztlichen Gutachtens aus der dienstlichen Funktion und der gesetzlichen Aufgabenzuweisung an die Gesundheitsbehörde (ggf. nach Bundesländern variierend).
Bei gerichtlich angeforderten Gutachten ergibt sich die Verpflichtung aus der mit dem Auftrag ergehenden Bestellung (gemäß Zivilprozessordnung/Strafprozessordnung) - bei namentlich-persönlicher Beauftragung ohnehin, bei Beauftragung der Behörde wiederum aus der internen Zuweisung.
Allerdings kann bzw. muss ein/e beauftragte/r Gutachter/in in besonderen Fällen aus Gründen der Befangenheit oder drohenden Voreingenommenheit einen Begutachtungsauftrag ablehnen, beispielsweise wenn zwischen den Beteiligten :
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zuvor schon einmal eine anderweitige Beziehung z.B. aus ärztlicher Behandlung bestanden hat oder besteht,
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eine andere familiäre, soziale oder sonstige Beziehung besteht.
Die erstgenannte Thematik ist je nach Fragestellung offen zu handhaben. Eine Doppelfunktion mit therapeutischen Aspekten und gutachterlichen Aufgaben ist gerade im psychiatrischen Fachbereich nicht unüblich, bspw. in der Klinik oder im Sozialpsychiatrischen Dienst.
Eine tatsächliche persönliche Befangenheit kann sich neben familiären oder nachbarschaftlichen Aspekten auch aus sonstigen Beziehungen ergeben
- wobei hierbei kein zu strenger Maßstab angelegt werden sollte. So wird allein die Tatsache, z.B. bei gleicher Behörde tätig zu sein und sich ggfs. im Haus oder in anderen dienstlichen Angelegenheiten begegnen zu können, kaum als Befangenheit in einem beamtenrechtlichen Einstellungs- oder Dienstfähigkeits-Verfahren bewertet werden können. In Zweifelsfällen kann es sinnvoll sein, die zuständige vorgesetzte Stelle zur Prüfung der Befangenheit, Absicherung der Neutralität durch ein kontrollierendes 4-Augen-Prinzip oder ggfs. Umsteuerung des Auftrags einzuschalten.
Darüber hinaus kann ein Begutachtungsauftrag zurückgewiesen werden, wenn die zu begutachtende Problematik erkennbar eine besondere Kompetenz oder sonstige Ausstattung erfordert, die persönlich oder aus den Rahmenbedingungen heraus nicht gegeben ist - und auch nicht z.B. im Rahmen eines ergänzenden Zusatzgutachtens beigezogen werden kann. Dies hat die beauftragte begutachtende Person schon mit Sichtung des Auftrags im Rahmen der ihm obliegenden Sorgfalt zu prüfen, um sich nicht ein sogenanntes Übernahmeverschulden vorhalten zu lassen, wenn später die fachliche Qualität oder gar generelle Verwendbarkeit des Gutachtens angegriffen werden könnte.
Ob und inwieweit innerhalb eines Amtes die erwünschten fachlichen Kompetenzen vorgehalten werden können, muss in der entsprechenden Gesundheitsbehörde geklärt werden.
Haftung der begutachtenden Person
Die Haftung für die sachliche und fachliche Richtigkeit in der Erstellung eines amtsärztlichen Gutachtens wird nach den Regeln geregelt, die für jegliche dienstliche Tätigkeit im Amt gelten. Wenn und solange die begutachtende Person diese Funktion als Mitarbeitende der Behörde wahrnimmt, ist für mögliche Mängel oder Schäden primär der Dienstherr haftbar zu machen. Dieser sollte dazu meist über eine entsprechende verbandliche Haftpflichtversicherung abgesichert sein.
Die gutachterlich tätigen Mitarbeitenden können lediglich bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Fehlverhalten oder entsprechenden Fehlern im Nachgang in sogenannten Regress genommen werden, d.h. intern zu einem Schadenersatz in Anspruch genommen werden.
Bei berufstypisch sorgfältigem Vorgehen in der Bearbeitung einer Begutachtung dürfte dies allerdings kaum einmal in Betracht kommen.