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Die Beurteilung psychischer Störungen erfolgt im günstigen Fall durch eine/n Fachärztin/-arzt. In der Realität werden aber psychiatrische Begutachtungen, insbesondere im Rahmen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, oft durch Fachärzte/innen anderer Fachrichtungen vorgenommen.
Grundsätzlich befähigt das Studium der Medizin jede/n Ärztin/Arzt zu einer psychiatrischen Untersuchung. So ist beispielsweise jede/r approbierte Ärztin/Arzt befugt, ein Gutachten im Rahmen der zivilrechtlichen Unterbringung von selbst- oder fremdgefährdenden Patienten zu erstatten. Gleichwohl tragen die klinisch-psychiatrische Erfahrung sowie nicht zuletzt psychotherapeutische Kenntnisse fraglos zur Kompetenz der begutachtenden Person bei.
Rahmenbedingungen
Wie bei allen Patienten ist auch bei psychisch Kranken eine besondere Vertrauensbasis notwendig, um im Rahmen eines tragfähigen Arbeitsbündnisses die für die Begutachtung relevanten Informationen zu erhalten.
Bei psychisch Erkrankten bedarf es sicherlich eines besonderen Feingefühls und Geschicks, um die unverändert erheblichen Vorbehalte gegenüber der Äußerung psychischer Probleme zu überwinden. Psychische Auffälligkeiten sind auch im 21. Jahrhundert häufig schambesetzt und werden in weiten Teilen der Bevölkerung immer noch tabuisiert.
Darüber hinaus gehen viele psychiatrische Erkrankungen mit spezifischen Ängsten einher. So ist das Erleben psychotischer Patienten häufig paranoid gefärbt, sodass sie der/dem Gutachter/in mit entsprechendem Misstrauen begegnen. Probanden mit Traumafolgestörungen haben erhebliche Ängste vor traumaspezifischen Triggerreizen im Rahmen der Untersuchung. Es empfiehlt sich daher, sich bereits zuvor über Art und Ausmaß des möglichen zugrundeliegenden Störungsbildes zu informieren.
Zu Beginn der Untersuchung kann eine ruhige und sachliche Erklärung des Hintergrunds der Begutachtung, im gegebenen Fall auch eine kurze psychotherapeutische Intervention, die Ängste von Probanden/innen vermindern.
Die psychiatrische Untersuchung selbst besteht wie in der Organmedizin aus Anamnese und Befunderhebung, wobei im Unterschied zur körperlichen Untersuchung die Erfassung psychopathologischer Symptome über weite Strecken parallel zu der Anamnese-Erhebung erfolgt.
Anamnese
Es erweist sich als hilfreich, die Probanden in einem ersten Teil der Anamnese zunächst frei und möglichst wenig strukturiert berichten zu lassen. Dies erlaubt einen Einblick in die individuelle Gewichtung der vorgebrachten Beschwerden und Themen. Zudem gewinnt der/die Gutachter/in einen Eindruck von der Introspektions- und Reflexionsfähigkeit des/der Probanden/in und kann deren Gesamtpersönlichkeit mit etwaigen Besonderheiten von Verhalten und Beziehungsgestaltung auf sich wirken lassen.
Darüber hinaus können sich im freien Bericht bestimmte psychopathologische Symptome zeigen, die bei einer eng strukturierten Befragung nicht zum Tragen kämen. So werden sich die formalen Denkstörungen einer psychotischen Person weniger im Rahmen eines strukturierten Interviews manifestieren, sondern eher während eines freien Gesprächsverlaufs. Dann ist unter Umständen zu beobachten, wie der Faden verloren geht, Gedankengänge inkohärent werden oder der/die Proband/in kommentierenden Stimmen folgt.
Im weiteren Teil der Anamnese wird der/die Proband/in gezielt die verschiedenen, aus der Organmedizin bekannten Bereiche ähnlich einem semistrukturierten Interview abfragen. Neben Informationen zu Art und Entwicklung der beurteilungsrelevanten Symptomatik, zur körperlichen, vegetativen, Medikamenten- und Suchtanamnese kommt der biografischen und sozialen Anamnese bei psychiatrischen Erkrankungen eine besondere Bedeutung zu. Hier interessieren etwaige Auffälligkeiten der frühkindlichen Entwicklung, Schullaufbahn, Pubertät und Adoleszenz ebenso wie spätere Lebenskrisen oder „life events“ als mögliche Auslöser psychischer Dekompensation.
Die Anamnese gibt zudem wertvolle Hinweise auf biologische, psychosoziale und psychische Ressourcen oder aber Risikofaktoren des/der Probanden/in, die die Fähigkeiten zu Stressbewältigung und Traumaverarbeitung sowie den Verlauf psychischer Erkrankungen wesentlich beeinflussen (Herrman et al. 2011).
Darüber hinaus empfiehlt es sich zur Einschätzung der konkreten Beeinträchtigungen, sich von dem/der Probanden/in die Gestaltung und Bewältigung des privaten und ggf. beruflichen Alltags detailliert schildern zu lassen.
Psychischer Befund
Kernstück der psychiatrischen Untersuchung und wesentliche Grundlage für eine psychiatrische Diagnosestellung ist der zum Zeitpunkt der Untersuchung erhobene psychische Befund (der nicht notwendigerweise psychopathologisch sein muss).
Während des anamnestischen Gesprächs lassen sich ggf. bereits eine Vielzahl psychopathologischer Symptome beobachten wie kognitive Beeinträchtigungen, formale Denkstörungen oder Veränderungen von Antrieb oder Psychomotorik. Weitere psychische Symptome werden im Rahmen einer gezielten Exploration erhoben, so zum Beispiel das Vorliegen von Wahrnehmungsstörungen oder inhaltlichen Denkstörungen wie Wahnerleben oder Zwangsgedanken.
Die Dokumentation des psychischen Befundes erfolgt gemäß den operationalisierten Kriterien des AMDP-Systems (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 2006).
Die Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) wurde 1965 mit dem Ziel gegründet, die vielfältigen Symptombeschreibungen zu vereinheitlichen und in die uns vertrauten Symptomkategorien zusammenzufassen. Ausführliche Formulierungshilfen zur Erfassung psychopathologischer Symptome finden sich im “Kurzleitfaden Psychopathologie. Eine Orientierungshilfe bei Beobachtung und Dokumentation psychischer Auffälligkeiten. Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie und Neurologie” (Richartz-Salzburger, Wormstall, and Morawetz 2006) :
Äußeres Erscheinungsbild | Haartracht, Pflegezustand, Kleidung, Körperhaltung |
Bewusstsein, Orientierung | wach, schläfrig, somnolent, stuporös |
Kognitive Funktionen | Gedächtnisleistungen, Konzentrationsvermögen, Aufmerksamkeitsspanne, Auffassungsgabe, Abstraktionsvermögen, Intelligenzniveau, Bildungsstand, Introspektions- und Reflexionsfähigkeit |
Formales Denken | geordnet, inkohärent, assoziativ gelockert, weitschweifig, zerfahren, gesperrt, verlangsamt |
Inhaltliches Denken | Wahninhalte, Zwangsgedanken; überwertige Ideen |
Wahrnehmungsstörungen | Halluzination, Illusion |
Ich-Störungen | Depersonalisation, Derealisation, Gedankenentzug, Gedankeneingebung, Fremdbeeinflussungserleben |
Störungen des Antriebs und der Psychomotorik: | Mimik, Gestik, Antriebssteigerung, Unruhe, Apathie, Agitation |
Affektive Symptome | Grundstimmung, affektive Schwingungsfähigkeit |
Fremd- oder selbstgefährdende Impulse |
Tabelle 1: Auswahl von AMDP-Kriterien zur Beschreibung des psychischen Befundes
Der psychische Befund im engeren Sinn kann durch eine Persönlichkeits- und Verhaltensbeobachtung ergänzt werden, die Aufschluss über die nonverbale und unbewusste Kommunikation des Gegenübers gibt. Insbesondere bei Probanden mit Persönlichkeitsstörungen und neurotischen Störungen äußern sich Symptome weniger in Form einer spezifischen Psychopathologie, sondern eher in auffälligen Verhaltensweisen und Besonderheiten der Beziehungsgestaltung. Deren Erfassung erfolgt unter Anwendung psychotherapeutischer Methoden, die im gutachterlichen Kontext nicht zu therapeutischen Zwecken, sondern als diagnostische Mittel eingesetzt werden. Dazu gehören unter anderem die Identifizierung der vorherrschenden Abwehrmechanismen sowie die Analyse von Übertragungs- und Gegenübertragungs-Phänomenen. Bereits die sogenannte Eingangsszene kann über das Erscheinungsbild und Art der Kontaktaufnahme einigen Aufschluss über die Persönlichkeit des Probanden geben. Unbewusst gibt der/die Proband/in „szenische Informationen“ und lässt ggf. ein Muster bestimmter (erlernter) Coping-Strategien und (unbewusster) Abwehrmechanismen erkennen. Diese Beobachtungen können Hinweise auf unbewusste Motive und Konflikte sowie das Strukturniveau der Persönlichkeit geben.
Die psychiatrische Untersuchung schließt grundsätzlich eine körperliche Untersuchung ein, auf die lediglich im Fall des Vorliegens eines aktuellen Untersuchungsbefundes einschließlich Neurostatus oder der Ablehnung durch die zu begutachtende Person verzichtet werden sollte. Im Einzelfall sind Blutuntersuchungen (z.B. bei V.a. Suchterkrankung) oder testpsychologische Zusatzuntersuchungen (z.B. zum Ausschluss bzw. Quantifizierung kognitiver Störungen) sinnvoll.
Unter kritischer Würdigung der vorliegenden Fremdbefunde, des bisherigen Krankheits- und Therapieverlaufs und den Angaben der zu begutachtenden Person werden die Untersuchungsergebnisse einer Diagnose gemäß ICD zugeordnet.
Funktionelle Diagnose
Liegt eine psychiatrische Erkrankung vor, ist im in Folgenden deren Auswirkung auf die konkrete, ggf. amtsbezogene Leistungsfähigkeit zu beurteilen.
Für die Einschätzung der funktionellen Auswirkungen psychischer Störungen wurde in Anlehnung an die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICFDH) von Michael Linden die „Mini-ICF“ entwickelt (Linden and Baron 2005; 2005). Ausgehend von einer bekannten psychiatrischen Diagnose nennt das Mini-ICF eine Reihe von Fähigkeiten, die infolge der vorliegenden Psychopathologie relevant beeinträchtigt sein können (Tabelle 2).
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Tabelle 2 : Beispiele möglicher Fähigkeitsstörungen nach (Linden and Baron 2005)
Mithilfe dieser Begrifflichkeiten können die konkreten, auf die auszuübende Tätigkeit bezogenen Leistungseinschränkungen anschaulich und nachvollziehbar beschrieben werden, was dem Auftraggeber praxisnahe Hinweise auf die tatsächlichen Einsatzmöglichkeiten des Betroffenen gibt.
Prognosebeurteilung
Schließlich ist in der Regel zur Prognose einer Erkrankung Stellung zu nehmen. In den letzten Jahren wurden eine Vielzahl individueller Risikofaktoren sowie protektiver Einflüsse auf den Verlauf psychischer Störungen intensiv beforscht. Neben Studien zu genetischen, neurobiologischen und psychosozialen Risikofaktoren erweiterte die Resilienzforschung (1) die Bandbreite der zu berücksichtigenden Einflüsse auf die Prognose psychischer Erkrankungen. Dennoch gibt es kaum belastbare Studien, die den individuellen Verlauf psychiatrischer Erkrankungen mit ausreichender Signifikanz antizipieren ließen. Im schwierigsten Teil der Begutachtung darf daher durchaus auf die Grenzen psychiatrischer Vorhersagekraft verwiesen werden.
Anhaltspunkte zur Prognoseeinschätzung können sein (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. 2012) :
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die identifizierten Risiko- und protektiven Faktoren des Betroffenen
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Auslöser und bisheriger Verlauf der Erkrankung (Schweregrad, Dauer, Chronifizierung)
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Krankheitsverarbeitung und Veränderungsmotivation
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bisherige Therapien und Rehabilitationsmaßnahmen und ihr Erfolg
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Arbeitsunfähigkeitszeiten
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sozialer Hintergrund und Unterstützung (Familie, Beruf, Verfügbarkeit eines
Arbeitsplatzes, Arbeitsplatzkonflikte) -
Rentenantragstellung
Auch die Beantwortung weiterer Fragen, z.B. nach dem Vorliegen einer Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zu einem früheren Zeitpunkt, kann unter Umständen nicht in der von der auftraggebenden Person gewünschte Eindeutigkeit erfolgen. Hier sollte die begutachtende Person medizinisch korrekt bleiben und sich auch im Fall kritischer Nachfragen zum „non liquet“ (“es ist nicht klar”) bekennen.